Engel der Vergessenen
Spannungen ihn bis jetzt aufrecht gehalten hatten.
Dr. Haller wandte sich ab, klopfte Pala auf die Schulter und ging hinüber in den OP. Siri hatte ihren Instrumententisch fertig und saß daneben. Die neue Klimaanlage summte leise, es war angenehm kühl im Raum.
»Kommst du mit?« fragte Haller plötzlich. Siris Augen veränderten sich sofort, Frage und Angst überschatteten sie.
»Wohin, Chandra?«
»Irgendwohin. Die Welt ist groß genug.«
»Du willst weg von Nongkai?«
»In einem halben, spätestens in einem Jahr braucht man mich hier nicht mehr.«
»Wir brauchen dich immer, Chandra.«
»Die Klinik wird wie eine gut geölte Maschine laufen. Es werden genug Fachärzte hier sein, die modernsten Geräte werden zur Verfügung stehen. Was soll ich dann noch hier?«
»Helfen, Chandra.« Ihre schlanken Hände falteten sich in ihrem Schoß. »Was ist Nongkai ohne dich? Warum willst du weg?«
»Es ist verdammt schwer, dir das zu erklären«, sagte er. »Ich weiß es selbst nicht genau. Eine Unruhe ist in mir, etwas, was mich nicht ruhig Atem holen läßt. Verstehst du das? Natürlich nicht. Es ist, als ob einen immer jemand antreibt, mit lautlosen, schmerzlosen Peitschenschlägen. Aber man spürt sie doch, man wird von ihnen hin und her gejagt, man kann nicht stillstehen, man japst nach Luft, wo andere sagen: Welche Stille! Welcher Frieden! Mich zersprengt dieser Frieden. Verflucht noch mal, ich habe keine Erklärung dafür!«
Er tauchte die Hände und Arme in das Waschbecken mit dem heißen Wasser und begann sich abzuschrubben.
Dr. Butoryan und Dr. Kalewa kamen in den OP. Pala und ein anderer Pfleger rollten den ersten Patienten herein, eine junge Frau, deren rechte Hand amputiert werden mußte.
»Wieviel stehen auf dem Programm?« fragte Haller.
»Vier Amputationen, Dr. Haller.«
»Und die anderen?«
»Ich dachte, morgen.«
»Warum das denn?« Haller schrubbte seine Finger. Dr. Butoryan warf einen schnellen Blick zu Doktor Kalewa.
»Sie haben eine lange Reise hinter sich. Und den anstrengenden Empfang. Seit zwanzig Stunden sind Sie auf den Beinen, habe ich mir sagen lassen. Sie müssen doch müde sein!«
»Pala!«
»Jawohl, Doc.«
»Alle Amputationen vorbereiten.«
»Das sind vierzehn! Sie machen sich kaputt, Doktor! Sie ruinieren sich!«
»Machen Sie sich keine Sorgen um meine Physis, Kollege!« Er sah Dr. Butoryan fordernd an. »Es sei denn, Sie selber haben Angst, nicht durchzuhalten. Das könnte ich verstehen. Wir werden in drei Teams arbeiten. Bestimmen Sie die Kollegen, die Sie ablösen werden.«
Dr. Butoryan schwieg. Wortlos beendete er seine Waschungen und ließ sich die Gummihandschuhe überstreifen. Dr. Kalewa war schon mit der Anästhesie der jungen Frau beschäftigt. Pala war hinausgelaufen, um die anderen Patienten vorzubereiten und einige Ärzte zu alarmieren. Dr. Haller war wieder da.
Sie waren mitten in der dritten Operation, als Pala in den OP stürzte. Ihm folgte Oberst Donyan. Doktor Haller brüllte ihn an:
»Hinaus! Sie bringen Millionen Bakterien mit! Sind Sie übergeschnappt, Donyan?«
Haller warf eine Präparierschere weg und trat von dem abgedeckten Körper des Operierten zurück.
»Sie haben Karipuri gefunden!« schrie Donyan. »Eine Streife auf dem Nongnong. Er wurde von einem Tiger gejagt. Bevor meine Leute ihn erschießen konnten, hatte er Karipuri angefallen!«
»Machen Sie weiter, Butoryan«, sagte Haller ruhig. Er zog die Handschuhe aus, warf sie in den Eimer und riß sich den Mundschutz ab. »Ist Karipuri tot?«
»Nein, noch lebt er! Sie haben ihn aus dem Fluß gezogen und abgebunden.«
»Was abgebunden?«
»Den linken Oberschenkel. Die Arterie. Der Tiger hat ihm das ganze Bein zerfetzt. Gerade kam die Meldung über Sprechfunk. Er liegt am Ufer und ist bei vollem Bewußtsein. Wenn … wenn Sie mein schnelles Motorboot nehmen, können Sie in einer halben Stunde bei ihm sein. Mit dem Patrouillenboot stromaufwärts ist es unmöglich.«
»Pala!« Die Ärzte im OP zuckten zusammen, Siri legte die Instrumente, die sie gerade anreichte, weg, trat zur Seite und band sich ebenfalls den Mundschutz ab. Sofort schob sich eine Schwester des wartenden zweiten Teams an ihre Stelle und übernahm den Instrumententisch.
»Zur Apotheke! Blutersatz! Fünf Flaschen! Meine große Ambulanztasche! Dr. Kalewa, Sie kommen mit! Jetzt zeigen Sie mal, was Sie als Anästhesist gelernt haben! Nehmen Sie alles mit, was zur Wiederbelebung nötig ist. Schnell, meine Herren, schnell! Sie
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