Engel des Todes
Herz, und vor Schreck fuhr sie sich mit der Hand an den Mund. Sie hörte gar nicht weiter hin, als Ralph erläuterte, dass der Betrieb nicht genug Geld abwarf, obwohl die Stadt an Zulauf gewann, nachdem Cannon Beach, Florence und Yachats zu teuer geworden waren und die Leute weiter unten an der Küste nach romantischen Plätzen für einen Kurzurlaub suchten. Doch das brachte den Lodgettes keine Rettung. Junge Touristen wollten keine rustikalen Blockhütten. Sie verlangten nach DVD -Playern und Biosäften. Auch esoterische Therapien durften im Angebot nicht fehlen. Ein Urlaubsort in solcher Eins-a-Lage ohne Luxusferienwohnungen und Badehotel ergab für Kenner der Branche keinen Sinn. John sagte später zu Patrice, wenn Ralph und Becca sich die Mühe gemacht hätten, die Namen ihrer Gäste zu behalten, hätten die Dinge vielleicht eine andere Wendung genommen, doch das ließ sich nun nicht mehr ändern. Ein Immobilienmensch aus San Francisco hatte ihnen ein Angebot unterbreitet, das sie nicht ausschlagen mochten.
Sie saßen mit ihren Drinks auf der Terrasse der Bar und warteten auf das Abendessen: Bill mit einem Bier – eine Seltenheit für ihn – und Patrice mit einem Sweet Manhattan – eine noch größere Seltenheit. Patrice fühlte sich so niedergedrückt wie schon lange nicht mehr. Warum musste sich das Leben in diese Richtung entwickeln? Es schien ihr, als ob die Welt jedes Jahr mit Neuheiten überschwemmt würde, die ihr gleichgültig waren, Erfindungen, die sie für trivial oder lästig hielt, aber in der Öffentlichkeit als Beginn eines neuen Zeitalters begrüßt wurden. Sie wehrte den ganzen neuen Kram nicht ab, versuchte sogar, den angeblichen Reiz von Mobiltelefonen, Bedieneroberflächen und Rappern wie Eminem zu verstehen, aber warum mussten die Dinge, die für sie wichtig waren, dabei untergehen? Auch ihr Mann war still. Er machte ein Gesicht, wie wenn er versuchte, nicht an etwas Bestimmtes zu denken. Das ganze Abendessen über blieb er schweigsam und schaute nicht einmal die Weinkarte an, was er sich doch sonst zur Gewohnheit gemacht hatte. Patrice vermutete, dass er ebenso fühlte wie sie, dass Bill sich die gleichen Fragen stellte wie sie, vor allem die eine, die sie sich gar nicht in Worte zu fassen traute.
Würden sie jemals wieder nach Verona kommen?
Wo sollten sie wohnen, wenn die Lodgettes einem Hotel weichen mussten, wie man es aus Hochglanzprospekten kennt? Einer jener Nobelherbergen, wo Ehepaare, deren Beziehung in die Jahre gekommen ist, auf einen neuen erotischen Funken hoffen (oder wo sie sich, was wahrscheinlicher ist, zu einem heimlichen Wochenende mit ihrer Wertpapierhändlerin oder ihrem Nachbarn treffen)? Es gab noch ein anderes Hotel weiter oben am Highway 101 im Norden von Verona, aber das war ein gesichtsloser Backsteinbau mit einer baumlosen Rasenfläche davor. Kein Ort, den man als Urlaubsziel wählt oder wohin man zweimal geht. Sie hätten das Hotel, wenn es einmal fertiggestellt war, ausprobieren können, aber das wäre Verrat an den Lodgettes gewesen, an denen ihnen so viel gelegen hatte. Sie kannten jeden Pfad zwischen den Bäumen. Wie hätten sie morgens aufstehen und sich zum Frühstück auf einen Balkon setzen können, der einen Blick auf den Parkplatz bot, wo einmal ihre Blockhütte gestanden hatte?
Was sollten sie also tun? Sich einen anderen Urlaubsort suchen? Das wollte Patrice nicht. Sie wollte nicht wieder von vorn anfangen. Verona als Ziel zu haben bedeutete, viel häufiger eine Auszeit zu nehmen, als eigentlich nötig gewesen wäre. Das Ziel stand fest. Sie kannten jede Meile des Wegs dorthin, sie machten auf dem Hin- und Rückweg immer an denselben Plätzen Rast. Alles das würden sie verlieren und zahllose weitere Rituale, die zu unbedeutend waren, um ausdrücklich genannt zu werden, wie zum Beispiel den kleinen Scherz, das ältere Schwulenpaar, dem sie am Strand immer zunickten, als die »zwei Gentlemen aus Verona« zu bezeichnen. Selbstverständlich gab es noch andere nette Orte an der Küste, und Verona war auch nicht der Himmel auf Erden (der Krämerladen im Ort hatte nur ein kümmerliches Angebot, deshalb fuhren sie zum Einkaufen immer nach Cannon Beach), aber ein Schlupfloch wie dieses findet man nicht durch bloßes Herumschauen. Aus Patrice’ innerem Haus war eine Wand entfernt worden, und damit konnte sie sich nicht abfinden.
Nach dem Abendessen gingen sie Hand in Hand die Straße entlang, als Bill sie mit dem Vorschlag überraschte, vor dem
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