Engel des Todes
Privathaus zu einem Nervenzusammenbruch führen. In den frühen Morgenstunden scheint das Gebäude zu sich selbst zu kommen und seine eigenen Gedanken zu denken. Wer zu dieser Stunde durch die Flure ging, der kauerte sich zu einem großen steinernen Tier in der Dunkelheit und lauschte auf sein ruhiges Atmen.
Und vielleicht machten deshalb nur wenige Frauen diesen Job. Katelyn wusste, dass sie eigentlich zu Hause im Bett liegen und schlafen oder auf das Atmen eines anderen Menschen horchen sollte. Eine Katze zählte da nicht, so sehr sie sie auch liebte. Es musste das Atmen eines Kindes oder doch wenigstens eines Mannes sein. In ihrer Wohnung konnte man auf alles Mögliche horchen, aber hören würde man nichts. Sie sollte sich nicht länger etwas vormachen.
Das war der Grund, warum sie hier war.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich im sechsten Obergeschoss, und sie begann mit festem Schritt ihre Runde. Sechs Stockwerke waren nicht furchtbar viel, aber das Fairview hatte nun einmal nicht mehr zu bieten. Katelyn hatte sich das neulich erst wieder von einem mürrischen Gast sagen lassen müssen, der einen Ausblick vermisste, wie er ihn in einem anderen Haus der Hotelkette oben in Vancouver genossen hatte. Das Hotel Bayside hatte zweiundzwanzig Stockwerke und bot prächtige Ausblicke auf die Barrard Bay und die Berge. Katelyn kannte das aus eigener Anschauung, da sie selbst einmal zu einer Fortbildung dort gewesen war. Auch in Seattle gab es Hotels mit spektakulärer Aussicht, aber keines legte so viel Wert auf Servicequalität. Der Mann hatte sie zwar scharf angesehen, als er mit diesem Text wie aus dem Hotelprospekt abgespeist wurde, aber bei der Abreise war er ganz zufrieden gewesen. Ein komischer Vogel: Zweimal hatte er sich morgens zum Frühstück eine Schale Obst und dazu Fleischpastetchen bestellt, was auf widerstreitende Regungen in seinem Innern schließen ließ.
Die Luft war warm. Sie ging die mit Läufern ausgelegten Flure entlang und folgte den drei Seiten eines kleinen Vierecks. Viele Menükarten waren es nicht. Zu dieser Jahreszeit herrschte an den Wochenenden wenig Betrieb. In Zimmer fünf war ein Touristenehepaar – Katelyn hatte sie nach Mitternacht ins Hotel torkeln sehen und war gespannt, was die beiden zum Frühstück bestellt hatten –, aber meistens handelte es sich um Geschäftsleute. Diese würden früh aufstehen und den kostenlosen Kaffee und die Croissants mitnehmen, die zwischen sieben und halb neun Uhr in der Hotelhalle angeboten wurden. Das ganze Stockwerk brachte es bloß auf zwölf Bestellungen, von denen die meisten aus der hauseigenen Variante des Zwei-Ei-Frühstücks bestanden. Nichts Interessantes außer einem Wunsch nach Haferflocken, bei dem sie lächeln musste. Der Gast war ein richtiger Schrank. Haferflocken waren bestimmt nicht sein eigener Wunsch, er wollte nur brav sein. Seine Frau wäre stolz auf ihn – wenn sie es ihm abnahm, wenn die Rede überhaupt darauf kam, was nur in einem Gespräch geschähe, das er sicherlich nicht für sich entscheiden würde. Er hätte das große Frühstück verdient, wie es ihm zustand. Aber so war es auch recht.
Am Ende des Flurs schaute sie noch einmal zurück, ob sie auch nichts übersehen hatte, und öffnete dann die Tür zum Treppenhaus. Der dicke Teppich endete gleich hinter der Tür, eine Sparmaßnahme, mit der sie einverstanden war. Gäste benutzten die Treppe nur selten, eigentlich nur, wenn sie Fahrstuhlangst hatten, und erhielten hier ihren Blick hinter die Kulissen. Keine Bilder an den Wänden, kein roter Teppich mit kleinen goldenen Karos, kein Luxus wie sonst im Hotel. Es war schlichtweg …
Katelyn schüttelte den Kopf. Gute Frau, Schluss damit. Hier gab es keine Geheimnisse, das hier war bloß ein Treppenhaus. Der Boden war mit grauem Linoleum ausgelegt und hallte wider. Nichts, was der Rede wert wäre, also brauchte sie nicht so zu tun, als wäre es etwas Besonderes. Es hörte sowieso niemand zu. Das Treppenhaus zu inspizieren war Teil ihrer Arbeit, weiter nichts.
Sie horchte auf den Nachhall ihrer Schritte und versuchte sich auf die Außenwelt zu konzentrieren. Selbstgespräche waren auch dann Selbstgespräche, wenn sie lautlos geführt wurden. Und das tat sie ununterbrochen, es war wie der Refrain eines Songs von Shania Twain: ein einschmeichelndes Geplätscher, ideal als Hintergrundmusik, aber leer wie ein Tischtennisball, wenn man wirklich einmal auf den Text achtete.
Sie war gerade an der ersten Treppenbiegung,
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