Engel des Vergessens - Roman
dass jedes verstoßene Kind wie Videk von den Waldtieren ein Hemdchen bekommen wird und zu essen, was der wilde Garten hergibt. Mutter liebt Gedichte, in denen der Winter droht, alle faulen Kinder zu holen, und die Vögel den Eltern versprechen, die Erziehung ihrer Kinder zu übernehmen.
Im Frühjahr steckt sie mir Löwenzahnblüten ins Haar und sagt, dass ich mit einfachen Dingen zufrieden sein müsse. Sie benötige für ihren Frohsinn nur die Natur, die Lieder und die katholische Kirche. Sie sagt, es gebe nur einen Weg, in Gnade zu leben, den Fleiß und das Einhalten der Gebote Gottes. Sie sagt, die katholischen Feiertage müsse man einhalten, die Messfeiern müsse man besuchen, die morgendlichen und abendlichen Gebete müsse man verrichten. Vor den Holzkreuzen an Wegen und Wiesenrainen solle man innehalten, vor den Altären müsse man sich bekreuzigen. Mutters Wunschraum ist der Altarraum. An der Wand über ihrem Bett müssen Heiligenbilder befestigt sein. Im Herrgottswinkel sollen sich kleine Wölkchen bilden und göttliche Schnörkel ranken. Sie liest kleine Heftchen und Bücher, die von Märtyrern erzählen, die verstümmelt und umgebracht wurden oder die dem Leben und den Genüssen freiwillig entsagt haben, um in den Himmel aufsteigen zu können bei lebendigem Leib. Sie erzählt, dass einem die heilige Maria erscheinen könne, wenn man fleißig gewesen sei und ein reines Herz besitze. Sie schickt mich und meinen jüngeren Bruder regelmäßig in die Kirche und findet nichts daran, wenn wir den sieben Kilometer langen Weg nach Eisenkappel zu Fuß gehen müssen. Zu Gott führe immer ein steiniger Weg, sagt Mutter.
Ich jedoch glaube, dass sie unter Aufbietung von Liedern und Wundern gegen Großmutters Einfluss auf mich kämpft. Komm, sagt sie, wenn du mir gehorchst und deine Aufgaben machst, kannst du zu Michi gehen und fernsehen.
Ich mache mich nützlich und gehe zuweilen am Abend mit meinem Bruder über die Wiese und durch ein Wäldchen zu den freundlichen Nachbarn, bei denen wir auf der Couch sitzen und fernsehen dürfen. Oft hoffen wir vergeblich, hinter dem schwarzweißen Rieseln auf dem Bildschirm menschliche Wesen erkennen zu können.
An manchen Tagen versucht Michi mit Vaters Hilfe einen besseren Empfang einzurichten. Die Männer schreiten mit der Antenne, die aussieht wie ein kahler Christbaum, die Umgebung des Hauses ab, und wir rufen aus dem Fenster, jetzt, jetzt, wenn sich die Konturen der Figuren auf dem Bildschirm deutlicher abzuzeichnen beginnen. Der Almhirte Kekec kann bald wieder sein Sonnenlied trällern und auf der wundersamen Flöte spielen, er kann gleich wieder Menschen und Tiere verzaubern und die dunklen Kräfte aus dem Bergdorf verjagen.
Das slowenische Fernsehen kann nicht immer empfangen werden, schon gar nicht offiziell. Die Politik wird es für die Kärntner Slowenen nicht einrichten wollen, sagt Michi zu Vater. Das wäre das achte Weltwunder. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit dem Schattenfernsehen zu begnügen und uns wie Piraten im Nebel zu fühlen.
* * *
Großmutter hat ihre eigenen Absprachen mit der Natur. Sie glaubt, dass man Feld und Wald freundlich stimmen müsse und nicht mit Versen bekränzen. Ein Gedicht bedeute für die Natur überhaupt nichts, sagt sie, man müsse sich der Natur gegenüber untertänig zeigen.
Sie hat Weidenruten auf dem Dachboden gesammelt, die sie aus den gebundenen Palmbuschen herauszieht, welche jährlich am Palmsonntag in der Kirche geweiht werden. Aus den Weidenstängeln fertigt sie kleine Kreuze an, die wir im Frühjahr auf die Felder tragen, um sie in die gepflügte Erde zu stecken, damit der Kartoffelacker fruchtbar bleibe und der Weizen gedeihe. Wenn sich ein Gewitter zusammenzieht, legt sie Weidenstücke auf die Glut und trägt sie in einer Eisenpfanne durch das Haus. Der bittere Rauch soll die Luft klären und die Gewalten der Atmosphäre besänftigen. Den Glauben an Gott müsse man im Herzen tragen, sagt Großmutter, es genüge nicht, ihn in der Kirche zur Schau zu stellen. Auf die Kirche sei kein Verlass, findet sie, man könne ihr nicht trauen.
Großmutter vertraut nur ungewöhnlichen Zeichen am Himmel und kann sie deuten. Sie glaubt an die Quatemberfeiertage und an den 8. Mai, an dem sie jedes Jahr zur Messe geht, um sich für das Ende der Nazizeit zu bedanken. Sie glaubt an die Sprache, die an den Willen gerichtet ist, nicht an das menschliche Ohr. Sie sagt, dass Worte über eine große Macht verfügten, dass sie
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