Engel des Vergessens - Roman
Krankheitsbegriff, der ein Wortungetüm ist, geradezu erleichtert auf Vater an. Das wird es wohl sein, denke ich, das wird mir dabei helfen, das Dickicht der persönlichen und politischen Verflechtungen zu durchdringen. Hingegen, kann ein Wort für eine Krankheit etwas verändern? Ist es überhaupt möglich, Vaters Angstzustände zu entwirren, sie, wie es im Buch steht, in Nervenstränge, Zellkerne und Synapsen zu zerlegen?
Was für eine Vorstellung, dass die Erinnerung an einen Angstzustand Zeitklüfte und synaptische Spalten überspringen kann und auf diesem Weg in die Gegenwart gelangt, sie als fremd und unwirklich erfährt, als ob sich das einzig Wirkliche damals, vor langer, langer Zeit ereignet hätte und alles, was jetzt geschieht, nur unnützes Beiwerk ist, das vom Wesentlichen ablenkt.
Ich lese vom Schwinden der Empathie im Jetzt, vom Gefangensein im eigenen Körper, in dessen Stoffwechsel die Vergangenheit eingeschlossen ist wie eine lebende Gedächtnismikrobe, die zu bestimmten Anlässen den Menschen in Besitz nimmt, ihn überwuchert und von allem Gegenwärtigen trennt.
Vater wird durch die Erinnerung an den vergangenen Schmerz wiedergeboren, wenn es denn ein Schmerz ist und nicht nur ein betrunkener Schattentanz. Er entwirft und verwirft sich krampfhaft. Seine Spannungen entladen sich erst, wenn er getrunken hat, wenn sein Körper in einen Zustand der Betäubung und Enthemmung gerät, in dem sich die Grenzen auflösen, wenn er zur weichen Masse wird, die in seinem Bewusstsein dahintreibt. Dann kann er sich Luft verschaffen, kann er das Wirre, Zusammengeklumpte, Vereiste aus sich hervorbrechen lassen, hinauskatapultieren. Ein Menschenvulkan.
Die Angst ist die große Unterscheidung, sie ist der Riss zwischen ihm und uns. Sie bildet den Überlebenskern in seinem Inneren, der keine Empfindung für uns zulässt. Sobald er sich fühlt, stößt er uns ab. Sein Leben scheint sich in den Stunden, in denen ihm der Alkohol die Zurückhaltung nimmt, zu konzentrieren und zu intensivieren.
In Vaters Landschaft der verzweigten und verzerrten Angst, die von außen betrachtet manchmal größer erscheint, als sie in Wirklichkeit gewesen sein könnte, in diese Gegend kann sich ein Wort von mir allein nicht vorwagen. Das einsame Wort, das ich auf die Reise schicke, kann nicht davon ausgehen, dass es Vaters Angstkern treffen wird, dass sich ihm die Angst in den Weg stellen und auf sich verweisen wird. Hierher musst du zielen, Wort, wird die Angst nicht sagen wollen, so weit wird sie sich nicht unterkriegen lassen, nur um sich einer beliebigen Bezeichnung unterwerfen zu können. Vaters Empfinden wird die Sprache oder das Wort, wenn es in seine Nähe kommt, genauso zertrümmern, wie er mich mit seinem Toben sprachlos macht, denn sein Brüllen besiegte immer mein Sprechen.
Manchmal, wenn sich seine Verstimmungen über mehrere Tage hinziehen, kommt mir der Verdacht, dass auch die heimatliche Landschaft die Verstörung in ihm heraufbeschwören könnte. Er tut, als ob er seine vertrauten Wiesen und Hänge nicht sehen will, als ob er sich am liebsten ins Haus zurückziehen und nicht mehr ins Freie treten will, nichts mehr von dem Wuchern und Wachsen draußen an sich heranlassen möchte. Ist es die Landschaft, die ihn an etwas erinnert, das ehemalige Schlachtfeld, das ihn zu erdrücken droht?
Wie sonderbar aber auch, hinter einem Stall zu kämpfen, auf dem Kartoffelfeld, unter dem Kirschbaum zu fallen, im Keller entdeckt zu werden, wie seltsam, unter einem Holunderbusch eingescharrt zu werden oder unter der alten Wettertanne. Wie seltsam, wenn der Krieg eine Landschaft unterjocht.
* * *
In Bosnien, im Kosovo und in Kroatien beginnt der Krieg. Ich höre Vater, ich höre viele Nachbarn und Bekannte in den ersten Monaten des Krieges darüber klagen, dass sie sich die Nachrichten im Fernsehen nicht anschauen könnten, dass sie auch nicht im Stande wären, sich einen Kriegsfilm anzusehen, dass sie den Film schlicht und einfach nicht ertrügen. Das schreckliche Kriegsgetöse, die Granaten, die Geschosse bohrten sich in sie, sie könnten stundenlang nicht einschlafen, wälzten sich im Bett hin und her, müssten an die armen Menschen denken, die aus ihren brennenden Häusern fliehen, da höre sich alles auf, ob denn die Politiker nicht begriffen, was es bedeute, in einen Krieg zu geraten.
Die Erinnerungen der Grabenmenschen revoltieren, begehren auf, nehmen wieder von ihnen Besitz. Nach dem Ende des Nazismus haben sie noch
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