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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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voneinander gewusst, haben sich ihre Erlebnisse erzählt, haben sich im Leid des anderen wiedererkannt. Dann aber kam die Angst, mit diesen Geschichten nicht mehr dazuzugehören, fremd zu sein in einem Land, das andere Erzählungen hören wollte und ihre für unwichtig hielt. Sie wissen, dass ihre Vergangenheit in den österreichischen Geschichtsbüchern nicht vorkommt, noch weniger in den Kärntner Geschichtsbüchern, wo die Geschichte des Landes mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnt, dann eine Unterbrechung macht und mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder einsetzt. Das wissen die Erzähler und haben gelernt zu schweigen.
    Nun jedoch kramen sie das Erinnerte hervor, ziehen es aus dem Sack, lassen es wie beiläufig fallen, in der Hoffnung, dass es von einem Zuhörer aufgelesen werde. Es könnte ja sein, dass jemand etwas erfahren möchte. Es wäre an der Zeit.
    Freilich, es wird nicht eindringlich nachgefragt. Die Frager sind behutsam, als ob sie nicht in alten Wunden rühren wollten, als ob sie Angst davor hätten, zu viel zu erfahren, womöglich noch über die eigene Familie. Gleich darauf überkommt die Fasterzähler wieder die alte Befürchtung, man könnte das Erzählte gegen sie oder gegen andere verwenden, man könnte alte Feindschaften wecken, Freundschaften verraten oder sich sonstwie verdächtig machen.
    Dann zwängen die Fasterzähler das Fallengelassene rasch wieder in die Tasche und tun, als ob ihnen jene Bemerkung nur aus Versehen herausgerutscht wäre, ein Missgeschick, man wolle gleich wieder schweigen, wenn fremde Menschen dabei sind. Ich gelte als Fremde, das weiß ich.
    Aus den Schweigern jedoch, die nur darauf warten, gefragt zu werden, brechen die Geschichten nur so hervor. Sie wissen nicht, wo sie beginnen sollen, sie geraten durch die Wucht der Erinnerung durcheinander, stolpern von Mensch zu Mensch, von Jahr zu Jahr, halten die Zeitenfolge nicht ein, verwechseln Namen und Orte, gehen davon aus, dass man sich auskenne, reden über Gespenster, über Höfe und Huben, die es schon lange nicht mehr gibt, die von Gestrüpp überwuchert und dem Boden gleichgemacht worden sind. Sie erinnern sich sogar an die Erzählungen der anderen, was alles hätte geschehen können, wovor man sich am meisten gefürchtet hat.
    Ich wundere mich, wenn ich von den sprunghaften Erzählweisen überfordert werde, warum die Geschichten im Bewusstsein der Erzähler in Stücke zerfallen und keine Anbindung an einen größeren Zusammenhang finden, als ob jeder mit seinem Krieg allein gelassen worden wäre, als ob die Vereinsamung der Zeugen Teil einer Strategie des Vergessens gewesen ist. Ich fange an nachzufragen und Verknüpfungen zu suchen. Das Gehörte lässt mir keine Ruhe. Es verbindet sich mit den Kindheitsgeschichten, die sich in mir verfangen haben. Unentwegt kreise ich um den historischen Schlund, in dem alles untergegangen scheint.
    * * *

Der Krieg hat sich in unseren Gräben in den Wald zurückgezogen, er hat die Wiesen und Äcker, Hügel und Hänge, die Berglehnen und Bachbette zu seinem Kampfplatz gemacht, er hat die Häuser, die Ställe, die Küchen, die Keller ihrer Bestimmung entrissen und sie in Bastionen verwandelt. Er hat die Landschaft umklammert, sich in ihr festgebissen, er hat die geologische Karte als Kriegskarte gelesen.
    Das Kampffeld ist nicht mehr sichtbar, überall droht der Hinterhalt, das Vertraute verändert sich, das bekannte Gesicht erscheint in der Maske. Das Territorium des Krieges ist getarnt, entgrenzt und schrankenlos wie der Kampf. Die Schlacht zerfällt in Scharmützel. Das Feld der Ehre ist die Speisekammer der Bauern.
    Der Feind kämpft mit Wasser und Brot, mit Kleidung und Fleisch, mit Arbeit und Schweigen. Die Gestapo verkleidet sich als Partisan, die slowenische Sprache ist ihr Deckmantel. Die Frontlinie ist am wundesten Punkt gezogen. Die Kämpfer werden an den Haaren ihrer Frauen, Kinder und Eltern aus dem Wald gezerrt. Sie werden mit ihren Familien bekämpft, die auf den Äckern stehen, nicht in den Schützengräben. Sie werden für ihren Widerstand dreifach bestraft und müssen sich bis an ihr Lebensende den Fragen stellen, ob der Kampf gegen die Nazis es wert gewesen ist, in diesen Konflikt zu geraten und die Angehörigen der Sippenhaftung der Nazis auszuliefern. Auf den Höfen werden die schönsten Schlachten geschlagen und die kürzesten Prozesse gemacht. Kleine Geschichten, die niemand bezeugen kann, schnell zur Hand, rasch weggeworfen ein Menschenleben.

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