Engel im Schacht
herausgegeben, aber der Gedanke an seine Rechnung erinnerte mich auch wieder an meine Steuererklärung, die am nächsten Mittwoch fällig war. An meine ganzen anderen Verpflichtungen durfte ich gar nicht denken. Ich kroch müde vom Wohnzimmer ins Gästezimmer, ohne mich von ihm zu verabschieden. Nachdem Lotty sich um Max gekümmert hatte, kam sie herein, um mich kühl, man könnte fast sagen, mitleidslos, zu untersuchen. Während sie mir die Decke wieder einmal bis zum Kinn hochzog, erklärte sie, daß sie das nächste Mal gern ein Leichentuch draus machen und mich damit begraben würde. »Ich hab' dich auch gern, Lotty. Gute Nacht.«
»Und was soll ich Conrad und Mr. Contreras erzählen?« wollte sie wissen.
»Daß ich sie ebenfalls gern habe und sie morgen früh anrufe.«
»Nein. Du schläfst jetzt eine Weile, und dann rufst du sie an. Sie machen sich ernsthafte Sorgen um dich, obwohl ich persönlich eigentlich nicht verstehe, warum das überhaupt noch jemand tut. Nach dem, was du gestern erlebt hast, stellst du jetzt wieder was an - und setzt auch noch Max einem Risiko aus. Das ist absolut verantwortungslos.«
Als sie Max' Namen erwähnte, wachte ich noch einmal kurz auf. »Ist Max okay? Ich hatte Angst, er kriegt einen Herzinfarkt, aber diese Idioten haben ja nicht auf mich gehört.«
Lotty lächelte mich mit verzogenem Mund an, wie sie es so oft tut. »Das war nicht sein Herz, eher seine Seele. Max ist mit dreizehn aus Europa geflohen, um sein Leben zu retten. Der Gedanke an eine gewaltsame Rückreise muß ein schrecklicher Alptraum für ihn sein. Für mich übrigens auch, das weißt du. Ich habe ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben; morgen müßte es ihm eigentlich wieder gutgehen.« »Ich wollte das alles nicht«, meinte ich. »Wir waren wirklich sehr vorsichtig. Woher sollte ich denn wissen, daß die in einem ausgedienten Brotlieferwagen auf der Baustelle illegale Einwanderer untergebracht haben?« Lotty setzte sich neben mich aufs Bett. »Du hättest es wissen müssen. Weißt du auch, warum? Weil du, egal was du tust, mit den schlimmsten denkbaren Folgen rechnen mußt. Wenn du beispielsweise mal schnell in den Laden um die Ecke gehst, um Milch zu kaufen, ist das sozusagen die Garantie dafür, daß das Geschäft genau in dem Augenblick überfallen wird.«
»Bei meiner Geburt waren Mars und Venus im Aufsteigen begriffen oder wie das heißt. Und jetzt können sie sich einfach nicht einigen, wer mich beherrscht. Ist das denn meine Schuld?«
Ich versuchte, mich aufzusetzen. »Was meinst du denn, warum die Leute von der Einwanderungsbehörde heute aufgetaucht sind? Nicht, weil ich heute da war, sondern gestern. Einer von den Musketieren muß die Einwanderungsbehörde informiert haben, damit die Arbeiter aus dem Land wären, bevor ich nachhaken könnte. Die haben geglaubt, sie hätten heute Ruhe vor mir, weil sie mich gestern zusammengeschlagen haben.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Allerdings beweist du mir damit, daß deine Anwesenheit zu der Katastrophe geführt hat. Und jetzt versuch zu schlafen.« Lotty drückte mich auf das Kissen zurück, aber ihre Berührung war sanfter als ihre Worte.
Es war neun, als sie mich wieder weckte, um mir zu sagen, daß Conrad am Telefon sei. Ich zog meine Jeans an und stolperte den Flur entlang zum Apparat, verwirrt über das fremde Haus und darüber, zu einer so ungewöhnlichen Tageszeit geschlafen zu haben. »Wie kommt's, daß du verhaftet wirst und mir meine Mutter davon erzählen muß?« begrüßte mich Conrad.
»Ist das ein Frage- und Antwortspiel? Wie hat denn deine Mutter davon erfahren?«
»Durch die Nachrichten wie alle anderen Leute in Chicago auch. Ich meine, alle außer mir. Außerdem: Wie kommt's, daß man gestern auf dich schießt und ich das von diesem selbstgefälligen Arsch Ryerson hören muß?«
Ich saß auf dem spindelbeinigen Stuhl neben dem Telefon und rieb mir die Augen. »Ich habe seit Donnerstag überhaupt nicht mehr mit Murray geredet. Ich kann mir also nicht vorstellen, woher er davon weiß.« »Tja, den größten Teil der Geschichte habe ich von ihm erfahren - er hat doch glatt die Stirn besessen, mich nach Einzelheiten zu fragen.«
»Da hat er wohl irgendwo was aufgeschnappt und dann so getan, als ob ich mit ihm drüber gesprochen hätte. Das war ein Trick. Vielleicht wollte er auch einen Keil zwischen dich und mich treiben - das ist ihm ja auch gelungen. Bitte, Conrad - bitte, mach mir keine Vorwürfe.«
Conrad war zu
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