Engel im Schacht
waren noch immer von Schweiß und getrocknetem Leckwasser verklebt. Zu meinem Zimmer gehörte ein eigener Duschraum. Ich stellte mich ungefähr eine halbe Stunde unter die Brause und genoß das Gefühl, wie die Wärme meine verspannten Muskeln lockerte und das Wasser den Dreck von meinem Kopf wusch.
Im Bad hingen ein sauberer Morgenmantel und ein Nachthemd. Ich zog es an und ging wieder ins Bett, um Conrad anzurufen.
»Lotty hat mir gesagt, daß alles in Ordnung ist, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um dich, Baby. Ist schon bedenklich, wenn du nicht mal mehr merkst, daß ich deine Schulter streichle.«
»Als ich sieben war, hat mir eine Wahrsagerin in der Maxwell Street gesagt, ich hätte neun Leben. Ich müßte jetzt noch fünf oder sechs übrig haben.« »So verschwenderisch, wie du in letzter Zeit damit umgegangen bist, könnte ich mir vorstellen, daß du sie schon aufgebraucht hast. Kann ich vorbeikommen?« »Gern.« Ich bat ihn, mir aus meiner Wohnung frische Kleidung mitzubringen. »Das heißt, wenn du in dem Durcheinander, das die Schläger hinterlassen haben, noch irgendwas finden kannst. Ich brauche alles, auch Schuhe und Socken. Meine Turnschuhe werde ich wohl erst ausräuchern müssen, bevor ich sie wieder anziehen kann.«
Conrad erklärte sich bereit, meine Sachen zu holen, meinte aber, er würde erst nachmittags kommen. Lotty hatte ihm bereits das Versprechen abgenommen, mich nicht vor der Kernspintomographie aus dem Krankenhaus abzuholen. »Außerdem solltest du deinem gequälten Körper etwas Ruhe gönnen, Ms. W. Lies ein Buch oder geh mit den Hunden rüber zum See. Das hast du dir verdient. Du brauchst das wirklich.«
Hin- und hergerissen zwischen meiner Freude über seine Sorge um mich und meinem Zorn über seine Versuche, mich ruhigzustellen, drückte ich mich um eine eindeutige Antwort. In den letzten Tagen hatte ich kaum etwas gegessen. Trotz meiner Probleme und meines angeschlagenen Körpers spürte ich so etwas wie Euphorie in mir aufkommen. Zum erstenmal seit drei Tagen war mein Kopf klar genug zum Denken. Wenn ich schon nicht vor Mittag aus dem Krankenhaus rauskam, konnte ich wenigstens meine Muskeln lockern, damit mir nicht mehr jeder Schritt weh tat. Während ich ein paar Dehnungsübungen machte, schaute ich die Frühnachrichten an. Bisher war es noch nicht gelungen, das Loch zu stopfen; es drang weiterhin Wasser in die Tunnels. Ich bekam eine Gänsehaut: Mr. Contreras und ich hatten wirklich Riesenglück gehabt. Die Handelskammer war noch immer geschlossen - das war noch nie vorgekommen. Marshall Fields hatte mit Schäden in Millionenhöhe zu rechnen. Für die nächsten Tage wurde außerdem noch Regen vorhergesagt, was die Auspumparbeiten in den überschwemmten Kellern erschweren würde. Die Hochbahn im Loop stand still, weil die Dearborn Street überflutet war - die Pendler wurden mit Bussen befördert.
»Und im Northwestern Hospital konnten die Ärzte eins der Kinder, die die Chicagoer Privatdetektivin V. I. Warshawski und ihr Nachbar gestern aus den Tunnels geholt haben, nicht mehr retten.« Ich sah mir Beth Blacksin an, die vor dem Gebäude, in dem ich mich gerade befand, mit einem müde drein-blickenden Kinderarzt sprach. »Ms. Warshawski, die vor kurzem eine Kopfverletzung erlitten hat, bleibt zur weiteren Beobachtung vorerst im Krankenhaus. Unsere Reporter durften nicht mit ihr sprechen.« Ich schaltete den Fernseher aus, als die Werbung kam. Mit zusammengepreßten Lippen versuchte ich, mich auf meine Übungen zu konzentrieren, statt mir Vorwürfe zu machen wegen Jessie Hawkings.
Eine ganze Schar von Ärzten mit ernsten Gesichtern trat in mein Zimmer, als ich gerade ein paar Beinübungen machte. Ich hatte bereits fünf Minuten damit verbracht, meine verspannten Kniesehnen zu dehnen. Jetzt lag ich auf dem Boden und versuchte, die Beine so hoch wie möglich zu bekommen. Die Ärzte verstanden nicht gleich, was ich da machte, und schienen etwas überrascht. Als ich es ihnen erklärte, beorderte mich der Neurologe wieder ins Bett zurück.
»Das kann warten, bis Dr. Herschel der Meinung ist, daß Sie fit genug sind, um wieder Gymnastik zu machen. Ich würde jetzt gern Ihre Reflexe prüfen.« Jemand brachte das Frühstück herein, während er meine Fußsohlen mit Nadeln traktierte. Was da auf dem Tablett stand, war ziemlich einfallslos: eine Schüssel mit Frühstücksflocken, dazu ein süßes Brötchen und etwas, das aussah wie Rührei. Normalerweise hätte ich nichts davon
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