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Engel im Schacht

Engel im Schacht

Titel: Engel im Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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»Emily, du mußt jetzt eine Entscheidung treffen. In diesem Raum sind vier Leute, die alle nur dein Bestes wollen. Willst du mit mir weiter über die Nacht sprechen, in der deine Mutter gestorben ist? Oder möchtest du, daß ich gehe, damit du dich ein bißchen ausruhen kannst? Egal, wie deine Entscheidung aussieht: Wir werden sie respektieren. Niemand ist dir böse wegen der Entscheidung, die du triffst. Aber du mußt uns sagen, was du möchtest.« Die drei blieben stehen. Unter den gegebenen Umstanden konnten sie mich kaum hinauswerfen. Ellen Higgins trat zu Emily und reichte ihr einen Becher mit frischem Wasser. Ohne auf uns zu achten, legte sie Emily den Arm um die Schulter und brachte sie dazu zu trinken. Ganz allmählich wurde aus Emilys Schluchzen ein leichter Schluckauf.
    »Möchtest du jetzt schlafen?« fragte Schwester Higgins.
    Emily schlang die Arme um die Knie und wiegte sich leicht hin und her. Schließlich flüsterte sie: »Ich will mit Vic reden.«
    »Bist du sicher, daß du das möchtest?« fragte die Ärztin. »Du weißt, daß du mit niemandem sprechen mußt.«
    »Ich bin doch nicht blöde«, kreischte Emily. »Sie müssen mir das nicht immer wieder sagen.«
    Der Mann und die Frau warfen mir einen merkwürdigen Blick zu, eine Mischung aus Groll und Bewunderung, verließen dann aber den Raum. Ellen Higgins blieb neben dem Bett, den Arm weiter um Emilys Schulter gelegt. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl.
    »War das Dr. Morrison?« erkundigte ich mich.
    Schwester Higgins nickte. »Der andere war Michael Golding, unser Psychiater... Soll ich gehen, Kleines?« fragte sie Emily.
    Emily schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen sie. Mit leiser Stimme und vielen Pausen erzählte sie uns, was in der Nacht von Deirdres Tod passiert war.

Eine denkwürdige Nacht
    Deirdre war oft zu Beiratssitzungen von Home Free oder Arcadia House gegangen, hatte aber jeden Sonntag einen Wochenplan an die Pinnwand in der Küche geheftet, so daß Fabian wußte, an welchen Abenden sie vorhatte wegzugehen. Sie achtete darauf, an den freien Abenden von Mrs. Sliwa daheim zu sein. Obwohl Fabian häufig selbst nach Büroschluß noch Termine hatte, erwartete er von Deirdre oder der Haushälterin, daß sie sich an den Abenden, an denen er zu Hause war, um das Essen kümmerten. Emily konnte sich nicht erinnern, daß Deirdre vor dem Freitag, an dem sie ermordet worden war, jemals unangekündigt das Haus verlassen hatte.
    »Daddy ist schrecklich wütend geworden deswegen. Er plant alles gern im voraus«, sagte sie mit leiser Stimme, hin und wieder von einem Schluckauf unterbrochen. »Wie hat sich das geäußert?«
    »Er hat ziemlich rumgebrüllt und uns angst gemacht. Joshua hat sich in seinem Zimmer verkrochen und wollte gar nicht zum Essen runterkommen. Er hat gesagt, wenn Daddy schon immer meint, wir sollen uns zusammenreißen, dann könnte er das selber auch mal tun. Daddy hat gesagt, ich wäre nicht streng genug mit ihm. Wenn Josh freche Antworten gibt, soll ich ihm das abgewöhnen. Dann ... dann ist Joshua runtergekommen, und wir haben zusammen gegessen, und ich habe ihn und Natie ins Bett gebracht. Bis dahin war alles in Ordnung. Ich lese ihnen normalerweise eine Gutenachtgeschichte vor, auch wenn Mrs. Sliwa sie vorher gebadet hat. Dann bin ich in mein Zimmer, um meine Hausaufgaben zu machen.«
    Jetzt begann sie wieder zu weinen, ganz leise, ohne sich zu bewegen. Nach einer Weile versuchte ich sanft, sie zum Weitersprechen zu bringen. »Wann hast du beschlossen, zu mir ins Büro zu kommen? Nachdem du deine Hausaufgaben gemacht hattest?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ins Bett und... und dann ist Daddy zu mir ins Zimmer gekommen. Das macht er oft. Dann will er reden. Er redet gern mit mir im Dunkeln.«
    »Berührt er dich dabei auch?« fragte Ellen Higgins leise.
    »Nein. Er redet bloß.« Emily lehnte sich immer noch gegen Ellen Higgins' Arme und starrte vor sich hin, ohne uns anzusehen. »Er sagt, ich bin die einzige, die ihn versteht. Wir müssen Geduld haben mit Mom, weil ... weil sie trinkt. Er meint, ich helfe ihm dabei, geduldig zu sein.«
    Sie schwieg, als ihr einfiel, daß Deirdre jetzt tot war. »Ich wollte sagen, wir mußten Geduld haben mit ihr.«
    »Redet er auch noch über was anderes?« fragte ich nach einer langen Pause. »Ach, er erzählt mir, was in der Kanzlei los ist, daß die Leute da ihn nerven, daß die Arbeit der guten Leute nicht honoriert wird.« Sie sprach in schnellen, monotonen Sätzen,

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