Engel im Schacht
weil die Haushälterin ihren freien Abend hatte.« Soweit stimmte die Geschichte, oder besser gesagt: So viel hatte mir Fabian erzählt - die Polizei hatte Deirdres Zettel nie zu Gesicht bekommen.
»Sie hatte geschrieben, daß sie zu mir ins Büro wollte. Dein Vater ist deswegen ausgerastet und hat den Zettel zerrissen.«
Den Teil der Geschichte erfand ich, aber er stimmte wahrscheinlich, denn Deirdre hatte ihrer Familie bestimmt mitgeteilt, wohin sie wollte. Ich wußte nicht, was aus dem Zettel geworden war, aber Fabian oder Emily oder auch beide waren zum Pulteney gefahren: Wie sonst sollte der Baseballschläger wieder ins Haus der Messengers zurückgekommen sein? Emily konnte ich nicht fragen - eine so direkte Frage würde sie mir im Moment nicht beantworten.
Sie begann zu zittern. Ich hatte nur eine einzige Chance, die Geschichte richtig zu rekonstruieren - das war wie ein Balanceakt über dem Grand Canyon. Entweder: Emily war allein zum Pulteney gefahren. Oder: Fabian fuhr ins Pulteney, ermordete Deirdre und versteckte den Baseb allschläger im Zimmer seiner Tochter. So wahnsinnig war wahrscheinlich nicht einmal Fabian. Ich atmete tief durch. »Du hast deine Mutter gebraucht. Obwohl sie eine der Katzen war, die dich quälten, war sie auch der einzige Mensch, der dich vor deinem Vater schützen konnte. Also bist du in die Stadt gefahren, um nach ihr zu suchen. Und sie war tot. Du hast den Baseballschläger erkannt - er trug die Unterschrift von Nellie Fox, gehörte deinem Vater und stand normalerweise im Hausflur. Du hattest Angst, daß er deine Mutter umgebracht haben könnte. Du wolltest ihn schützen, also hast du den Schläger mit nach Hause genommen und ihn in deinem Schlafzimmer versteckt.« Sie schluchzte leise vor sich hin, und plötzlich sagte sie, fast unhörbar: »Ich hab' ihn gesehen.«
Ich hätte ihr gern die Hand auf den Arm gelegt, aber ich wußte nicht, wie sie das in ihrem gegenwärtigen Zustand auffassen würde, also kniete ich neben ihrem Bett nieder. »Wen hast du gesehen?«
»Meinen - meinen... Fabian. Er war... in Ihrem Büro.« Sie bekam fast keine Luft mehr, so sehr mußte sie sich beherrschen, nicht zu weinen. »Ich hab' gedacht, er ist daheim und liegt im Bett. Ich weiß nicht ... ich weiß nicht, wie er schneller in die Stadt gekommen ist als ich. Ich hab' gedacht, ich ... könnte vor ihm fliehen. Aber das geht jetzt nicht mehr.«
»Emily, als du letzten Montag mit Joshua und Nathan weggelaufen bist, bist du wieder zu mir ins Büro gekommen, weil du mit mir sprechen wolltest. Du hast gewußt, daß ich dir helfen würde. Und da hattest du recht. Ich werde dir helfen. Auch jetzt. Wenn du nicht mehr zu deinem Vater zurück möchtest, kann ich dir helfen, andere Alternativen zu suchen.« Ich hoffte, daß meine Stimme überzeugend klang. »Aber wenn ich dich von ihm wegholen soll, mußt du mir so klar wie möglich erzählen, was dir von dieser Nacht noch in Erinnerung geblieben ist.«
Als ich den Blick hob, sah ich Ellen Higgins und zwei andere Leute mit Ärztekitteln - eine Frau in meinem Alter und einen jüngeren Mann - in der Tür stehen. Sie beobachteten uns besorgt und sahen aus, als wollten sie sofort ins Zimmer stürzen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange die drei schon dort gestanden hatten. Ich schüttelte den Kopf leicht, in der Hoffnung, daß sie nicht hereinkommen würden, und wandte mich wieder Emily zu.
Sie schnappte so heftig nach Luft, daß sich ihr ganzer Körper aufbäumte. Ich suchte auf dem Tischchen nach einem Becher und einem Strohhalm. »Trink das«, sagte ich hastig.
Sie nahm den Becher, aber ihre Hände zitterten so sehr, daß sie die Flüssigkeit verschüttete. Sie schrie wütend auf - wütend über sich selbst, mich oder den Becher - und schleuderte ihn quer durchs Zimmer. Dann begann sie wieder zu schluchzen. Schon standen die drei in dem Raum.
»Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen«, sagte die Frau. »Sie muß sich wieder beruhigen.«
Ich blieb im Zimmer, weil ich hoffte, Emily würde spüren, daß ich versuchte, die Verbindung mit ihr aufrechtzuerhalten. Ich hatte den Eindruck, als habe Emily den Becher aus einer tiefen Ohnmacht heraus durch den Raum geschleudert. Der größte Fehler wäre es jetzt wahrscheinlich, sie wie ein Kind zu behandeln, denn das würde dieses Gefühl der Hilflosigkeit nur noch verstärken. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte immer weiter.
Ich sprach sie mit deutlich vernehmbarer Stimme an:
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