Engel im Schacht
an. Möglicherweise glauben die Beamten, sie wüßte etwas über die Mordwaffe.« »Ach.« Schwester Higgins machte große Augen. »Wir haben einen Psychiater zu Rate gezogen, weil wir glauben, daß die Zeit im Tunnel eine traumatische Erfahrung für sie gewesen ist. Als er sie nach ihrem Namen gefragt hat, hat sie geantwortet, sie habe keinen, sie sei eine Maus zwischen zwei Katzen. Mehr war nicht aus ihr herauszukriegen. Er meint, sie hat einen psychischen Zusammenbruch.« »Vielleicht ist sie auch so wütend, daß sie sich mit keinem Erwachsenen mehr unterhalten will«, überlegte ich laut. »Als sie letzte Woche von zu Hause weggelaufen ist, wollte sie zu mir. Wahrscheinlich vertraut sie mir eher als einem Fremden.« Schwester Higgins entschloß sich zu einem Kompromiß und versuchte, Dr. Morrison zu erreichen, um sie um Erlaubnis zu fragen. Als sich die Kinderärztin trotz des Piepserrufs nach fünf Minuten nicht gemeldet hatte, entschied sie, mich zu Emily zu lassen. Die meisten Kinder waren in Vier-, manche sogar in Sechsbettzimmern untergebracht, aber Emily war allein. Das, so erklärte Schwester Higgins, hatte mit ihrer hysterischen Reaktion auf Fabian zu tun. Dr. Morrison hatte Sorge gehabt, daß Emily mit weiteren Ausbrüchen die anderen Kinder negativ beeinflussen könnte.
Als ich den Raum betrat, lag Emily mit geschlossenen Augen da, die Anspannung in ihrem Nacken und ihren Armen ließ mich jedoch vermuten, daß sie wach war. Die sieben Tage im Untergrund von Chicago waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Auch sie hing am Tropf. Ihre krausen Haare lagen auf dem Kissen wie ein schlecht ausgewrungener Wischlappen.
Ich rückte einen Stuhl an ihr Bett. »Hallo, Emily. Ich bin's, Vic Warshawski. Du wolltest zu mir, als du von zu Hause weggerannt bist. Es tut mir leid, daß du mich nicht gefunden hast, daß du in letzter Zeit so viel durchmachen mußtest.« Ihre Kiefermuskeln bewegten sich, doch sonst gab sie kein Zeichen, daß sie mich gehört hatte.
»Dem Psychiater hast du gesagt, du hättest keinen Namen, du wärst eine Maus zwischen zwei Katzen. Solche Sachen finden Arzte ganz toll - die beginnen dann gleich drüber nachzudenken, was für interessante Artikel sie über dich in den medizinischen Zeitschriften veröffentlichen können. Vielleicht solltest du wieder die ganz normale Emily werden, damit sie dich nicht so ausnützen können.«
Sie gab ein Schnauben von sich, das halb Kichern, halb Schluchzen war. Zwar öffnete sie die Augen nicht, um mich anzusehen, aber sie sagte mit trotziger Stimme: »Ich bin nicht Emily. Ich bin eine Maus zwischen zwei Katzen.«
Ich leckte mir die Lippen nervös, während ich darüber nachdachte, wie ich sie am besten zum Reden veranlassen könnte. »Ich habe dein Gedicht über die Maus gelesen. Das war stark - du solltest dieses Talent fördern. Aber das Gedicht deutet auch darauf hin, daß du von deinen Eltern gequält worden bist. Wann hast du es geschrieben? Nach der Abendeinladung, die dein Dad für Manfred Yeo gegeben hat? Er hat dich an dem Abend ziemlich mies behandelt. Du weißt, daß ich das da auch schon gedacht habe.« Ich wartete ziemlich lange auf eine Antwort; aber sie schwieg mit angespanntem, verkrampftem Körper. Ich spürte, wie sich mein eigener Nacken verspannte, doch ich wußte, daß ich ruhig bleiben mußte. Ich schloß die Augen und ver suchte, mir die Dinge ins Gedächtnis zu rufen, die Emily in die Schächte getrieben hatte.
»Du hast das Gedicht nach der Abendeinladung geschrieben. Nachdem Fabian und Deirdre sich im Schlafzimmer gestritten hatten und nachdem ich mit dir gesprochen hatte. Wahrscheinlich hattest du das Gefühl, daß sich die beiden deinetwegen streiten, du arme kleine Maus.«
Sie zitterte, sagte aber immer noch nichts. Ich spürte, daß sie mir aufmerksam zuhörte. Wenn es mir gelang zu erraten, was tatsächlich passiert war, würde sie vielleicht mit mir darüber reden.
An dem Abend hatte ich mich noch einmal umgedreht und gesehen, daß in einem anderen Zimmer ein Licht eingeschaltet wurde. Ich hatte mir damals gedacht, Emily sei vielleicht aufgestanden, um noch etwas zu erledigen. Die Party war am Mittwoch gewesen. Am Freitag war Deirdre gestorben, doch Emily hatte das Gedicht Alice Cottingham sozusagen als Hilfeschrei bringen wollen. Ich kniff mich in die Nase, um mich besser konzentrieren zu können.
»Deine Mutter hat dir auf einem Zettel mitgeteilt, daß sie wegmuß und ihr den restlichen Lachs essen sollt,
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