Engel im Schacht
flüsterte ich. »Das Schloß ist nichts weiter als eine Verlängerung deiner Finger. Versuch, dich darauf zu konzentrieren.« Das Licht des Wachmanns huschte schon vor der Tür herum, als es mir endlich gelang, die Anlage zu überlisten. Ich drückte den Hebel daran zwei Drittel herunter und trat den Holzkeil mit den Füßen weg. Der Wutschrei des Wachmanns hallte den Schacht hinunter.
Der Aufzug blieb im elften Stock stehen. Gar nicht schlecht: Ich wollte sowieso in den fünfzehnten zurück, um meinen Aktenkoffer zu holen. Abgesehen von der Tatsache, daß auf dem Koffer natürlich überall meine Fingerabdrücke waren, befand sich auf der Innenseite auch an deutlich sichtbarer Stelle ein Aufdruck meines Namens. Belohnung für den ehrlichen Finder, oder irgend so ein Blödsinn.
Ich holte die Gantner-Akten aus meiner Jeans und stopfte sie vorn in die Bluse. Den braunen Umschlag, in dem sie sich befunden hatten, faltete ich sorgfältig und steckte ihn als Keil zwischen die Aufzugtüren.
Als ich am Treppenhaus anlangte, rechnete ich damit, den Wachmann von oben runterrennen zu hören. Doch alles war still. Natürlich: Er rief über sein Sprechfunkgerät Hilfe.
Wahrscheinlich würden sie annehmen, daß ich mit dem Aufzug bis zum Erdgeschoß fuhr, und mich dort erwarten. Das hoffte ich zumindest. Ich überschlug kurz, wieviel Zeit mir blieb, beschloß aber dann, auf jeden Fall zuerst meinen Aktenkoffer zu holen. Die vier Stockwerke hinaufzugehen, war eine Strafe für meine müden Beine. Ich konnte es mir nicht leisten zu singen oder irgendwelche Geräusche zu machen, um mich abzulenken. Aber wenigstens mußte ich nicht wieder in die unterirdischen Schächte. Weg von den Tiefen und hinaus ans Licht.
Nachdem ich bei meinem Koffer angekommen war, blieb ich lauschend erst mal eine Weile stehen, bevor ich wieder nach unten ging. Ich hatte nicht das Gefühl, daß mir jemand folgte oder jemand auf mich zukam.
Auf dem Weg nach unten stellte ich fest, daß ich doch noch mehr Kraft hatte als erwartet. Jedenfalls war ich tatsächlich in der Lage, die vier Treppen zum elften Stock hinunterzusprinten. Im Aufzug schob ich den He bel ganz nach links. Wenn er normal funktioniert hätte, hätte er mich bis zum Erdgeschoß gebracht, jetzt jedoch hielt er im Keller. Also war ich doch wieder ziemlich nahe an den Tunnels. Ich hielt die Waffe schußbereit, doch falls der Wachmann überhaupt Hilfe herbeigerufen hatte, wartete die oben im Foyer. In der Dunkelheit sah ich das rote Licht eines Ausgangs. Ich arbeitete mich tastend voran und gelangte schließlich zu einer Tür, die zur Garage des Gebäudes führte. Nach weiteren fünf Minuten befand ich mich in der Canal Street.
Ungeachtet meiner desolaten Finanzen winkte ich Ecke Washington Street einem Taxi und ließ mich bis vor meine Haustür fahren. Ich war so erledigt, daß ich mich nicht einmal nach Anton umschaute. Mit der entsicherten Smith & Wesson in der Hand stolperte ich die drei Treppen hinauf: Wenn er sich auf mich stürzte, würde ich ihn einfach abknallen.
Ich gelangte ohne größere Zwischenfälle an meine Wohnungstür. Vielleicht hatte Terry seine Drohung mit der polizeilichen Überwachung tatsächlich wahr gemacht, und vielleicht halfen mir die Bullen ja zur Abwechslung mal.
Ich schaltete lediglich noch die Alarmanlage ein und schob alle Riegel vor, bevor ich mir ein heißes Bad gönnte. Ich blieb ungefähr eine Stunde lang darin liegen, ließ immer wieder warmes Wasser nachlaufen, drückte meine Beine gegen die Wanne, streckte und dehnte sie. Während ich mich im heißen Wasser aalte, las ich die Gantner-Akten. Die Papiere, die ich mitgenommen hatte, erwähnten nichts von Banken auf den Caymaninseln, sondern faßten die Schulden von Gant-Ag und Gantohol bei der Bank sowie die Rückzahlungsbeträge zusammen und gaben einen Hinweis auf die Übernahme von Gant-Ags Verbindlichkeiten durch die Century Bank. Nachdem ich schließlich aus der Badewanne geklettert war, ging ich ganz langsam hinüber ins Wohnzimmer, um Murray anzurufen. Ich hatte seine Nummer schon zur Hälfte gewählt, als mir Terrys Drohungen wieder einfielen. Vielleicht hatte er mein Telefon angezapft. Ich zog meine Jeans wieder an und ging hinaus zu meinem Wagen. Dann fuhr ich den Diversey Parkway entlang, bis ich einen Münzfernsprecher entdeckte.
Ich erreichte Murray an seinem Arbeitsplatz. »Ich habe eine Hypothese, aber die müßte überprüft werden. Kannst du dich heute nachmittag mit mir
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