Engel im Schacht
begann eine lahme Diskussion über einen Klienten in Cedar Rapids. Sonderlich aufregend war das alles nicht, aber an der Oberfläche konnte es durchaus so aussehen, als fühlten wir uns nicht allzu unwohl auf dieser Party. Da brachte Lina die Rede auf Deirdres Kinder.
»Sie sind sicher sehr stolz auf sie«, meinte sie verzweifelt. »Man hört immer wieder, wie klug sie sind. Und Ihre Tochter kümmert sich rührend um ihre kleinen Brüder.«
Deirdre zuckte zusammen. »Mein Töchterchen ist eine richtige kleine Heilige.« In ihrer Stimme klang Sarkasmus mit. »Ich wüßte nicht, was ich ohne sie täte, und ihr Daddy würde sicher sterben, wenn er sie verlöre.«
Lina wandte den Kopf und wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augen. Wir anderen saßen einen Augenblick verblüfft da. Schließlich beugte ich mich zu ihr hinüber.
»Brian hat mir von Ihrem Hobby erzählt, dem Reiten. Ich bin nur ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen. Das war damals, als mein Dad einen Freund von der berittenen Polizei gebeten hat, mich vor sich in den Sattel zu setzen und mit mir durch den Grant Park zu reiten. Ich hab' das schrecklich aufregend gefunden, aber ich habe auch Angst gehabt. Wann haben Sie angefangen mit dem Reiten?«
Lina biß sich auf die Lippe, antwortete mir aber tapfer. Eleanor Guziak, die Bankerin, schloß sich unserem Gespräch an. Sie redete und gestikulierte ziemlich übertrieben, man merkte deutlich, wie peinlich ihr die Situation war. Als Brian und einer der anderen Männer sich zu unterhalten anfingen, sah ich an Deirdre vorbei hinüber zu Emily. Das Mädchen stocherte im Hauptgang herum, tat aber nicht einmal so, als wolle es tatsächlich etwas essen.
»Was machen Sie, Vic?« erkundigte sich Lina. »Sind Sie auch Juristin?« »Ich habe zusammen mit Fabian Jura studiert und eine Weile als Pflichtverteidigerin in Mord- und Totschlagfällen gearbeitet, aber seit zehn Jahren bin ich Privatdetektivin.« Meine Zunge war schon ganz dick von dem leeren Gefasel, das ich hier inmitten des Messenger-Chaos von mir geben mußte.
»Tja, Vic ist eine unserer bekanntesten Wohltäterinnen«, mischte sich Deirdre, die offenbar gemerkt hatte, daß sie sich zu wenig um ihre Gäste kümmerte, scherzend ein. »Sie hat auch nicht aufgehört, sich für die Armen und Schwachen einzusetzen, seit sie die Pflichtverteidigung aufgegeben hat. Sie bringt sogar obdachlose Familien in ihrem Büro unter.«
Lina wandte sich mit weitaufgerissenen Augen mir zu. »Tatsächlich? Das ist ja toll von Ihnen. Ich bin immer geknickt, wenn ich in die Stadt fahre und auf der Straße die vielen Obdachlosen sehe, aber ich komme mir so hilflos vor ... «
»Ich bin auch hilflos«, fiel ich ihr ins Wort. »Das Elend nimmt einfach überhand, und ich bin weder mutig noch klug noch reich genug, um zu wissen, was ich dagegen machen soll.«
»Aber wenn Sie eine Familie in Ihrem Büro unterbringen ...«, widersprach Lina. »Das habe ich nicht getan. Deirdre übertreibt.«
»Ach, Vic. Du bist einfach zu bescheiden«, mischte sich Deirdre ein. »Du hast uns doch am Montag erzählt, daß du eine obdachlose Familie untergebracht hast.«
Sie war zu betrunken, um ihre Stimme in der Gewalt zu haben. Die Gespräche am Haupttisch verstummten allmählich, die Leute begannen uns zuzuhören.
»Was sagen denn die anderen Mieter zu Ihrer Großzügigkeit?« Alec Gantner, der Sohn des Senators, hatte sich auf seinem Stuhl herumgedreht, um mich anzusehen.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Deirdre macht wieder mal einen Elefanten aus einer Mücke. Ich habe eine Frau mit drei kleinen Kindern hinter dem Boiler im Keller meines Bürohauses gefunden, als ich ein Kabel reparieren wollte. Das Haus wird am fünfzehnten Mai abgerissen; es sind nur noch ein paar Mieter da. Ich dachte mir, vielleicht kann die Frau statt da unten bei den Ratten oben in einem der leerstehenden Büros wohnen in den verbleibenden sechs Wochen - wie Sie sich vorstellen können, wimmelt's da unten bloß so von den Viechern. Aber als wir ihre Kinder gestern abend ins Krankenhaus gebracht haben, hat sie Angst bekommen, daß man sie ihr wegnehmen könnte, und ist verschwunden. Ende der Geschichte.«
»Sie haben nicht dran gedacht, die Eigentümer zu benachrichtigen?« mischte sich Donald Blakely, der Gateway-Banker, ein.
»Genau aus diesem Grund war ich unten im Keller: Den Eigentümern sind die Mieter so egal, daß sie nicht mal die nötigsten Reparaturen durchführen lassen. Und ich mache mir
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