Engel im Schacht
»Laß Ms. Warshawski in Ruhe.«
Emily wurde wieder rot, ihre Angst verschwand hinter der Maske der Dummheit, die sie so problemlos aufsetzen konnte.
»Sie stört mich nicht. Ich unterhalte mich gern mit ihr.«
Ich legte der jungen Frau die Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Durch das Wollkleid hindurch spürte ich ihre Anspannung. Ich zog die Hand weg und fühlte, wie sie sich etwas entspannte. Wovor hatte sie Angst? Bestimmt nicht davor, daß ich sie anmachte - sondern vor Fabians Reaktion.
»Sie brauchen sich wegen den Hawkings keine Gedanken zu machen«, sagte ich zu Emily. »Das ist meine Aufgabe. Okay?« »Wahrscheinlich haben Sie recht.«
Sie starrte mich an, wollte etwas von mir hören, vielleicht so etwas wie eine Bestätigung, daß ihre eigene Familie in Ordnung war, eine Bestätigung, die ich ihr nicht geben konnte. Nach einer ganzen Weile schaute sie ihren Bruder an, der sich an ihren Ärmel klammerte. Sie drehte ihn sanft auf seinem Stuhl herum und erzählte ihm flüsternd Geschichten, wie sie die Ratten mit Stöcken und bösem Gesicht vertreiben würden, wenn ihnen je welche begegneten. Der kleine Junge lachte. Ich wünschte, ich hätte seiner Schwester ebenso einfach Trost spenden können.
Ende der Festlichkeiten
Fabian gab mir ein so herrisches Zeichen, daß ich mich versucht fühlte, ihm keine Beachtung zu schenken und auf meinen Platz zurückzukehren, aber Emilys stumme Qual ließ mich dann doch zu ihm hinübergehen. »Ich habe deine Unterhaltung mit Emily mitbekommen.«
»So wie du die Ohren gespitzt hast, wär's auch ein Wunder gewesen, wenn du nichts mitbekommen hättest.«
»Ich habe gehört, daß du ihr gesagt hast, es sei deine Aufgabe, dich um diese obdachlose Frau zu kümmern. Mir wäre es lieb, wenn du Deirdre nicht damit belasten würdest; sie hat genug am Hals, auch ohne die Sozialfälle, die du aufgabelst.«
Ich machte große Augen angesichts dieser Bemerkung, die so offensichtlich fehl am Platz war, aber bevor mir eine passende Antwort einfiel, fuhr er schon fort.
»Du solltest die Sache Jasper Heccomb übergeben.«
»Jasper Heccomb?« plapperte ich ihm wie ein verwirrter Papagei nach.
»Dem Leiter von Home Free«, sagte Fabian ungeduldig.
»Aber ... das ist doch nicht der gleiche Typ, der damals zu unserer Studentenzeit die Antikriegskampagne auf dem Campus angeführt hat, oder?«
»Heccomb?« mischte sich Blakely ein. »Tja, in seiner Jugend war er wohl so was wie ein Radikaler, aber das scheint er hinter sich zu haben. Er leitet Home Free ziemlich effektiv.«
»Ach, Donald - wenn er das nicht schon längst hinter sich hätte, würde er jetzt Schuldscheine zeichnen«, meinte Alec Gantner. »Kennen Sie ihn denn, Ms. ... äh...«
»Warshawski«, half ich ihm auf die Sprünge. »Er war im letzten Studienjahr, als ich neunundsechzig mit dem Studium angefangen habe. Ich kannte ihn also nicht, bin aber sozusagen hinter ihm hergezockelt. Ich habe bis heute nicht gewußt, was aus ihm geworden ist. Seit wann ist er denn bei Home Free?«
»Seit fünf Jahren«, antwortete Deirdre hinter mir mit lauter Stimme, jede einzelne Silbe sorgfältig betonend. »Und dort macht er genau die Sachen, die Alec und Donald gut gefallen.«
Donald wandte sich auf seinem Stuhl um und lächelte seine Gastgeberin an. »Danke, Deirdre. Das freut mich zu hören. Schließlich gehört Home Free zu den gemeinnützigen Einrichtungen, die Gateway unterstützt, und in Zeiten, in denen das Geld knapp ist, ist es besonders beruhigend, wenn die Einrichtungen, die man fördert, gut geführt werden.«
Inzwischen hatte ich mich wieder auf meinen Stuhl gesetzt und bedachte Deirdre mit einem erbitterten Blick. Nachdem sie mich, ihre Tochter, Gantner und Blakely in Rage gebracht hatte, aß sie jetzt in aller Seelenruhe ihren Salat fertig. Fast als habe unsere Wut sie ernüchtert, unterhielt sie sich nun fröhlich mit Lina. Ich hatte die Nase voll von diesem Affentheater. Ich war gekommen, weil Manfred - wahrscheinlich - darauf bestanden hatte, mich einzuladen. Ich hatte diesen Moment des Triumphs ausgekostet, aber meine weitere berufliche Laufbahn hing mit Sicherheit nicht davon ab, daß ich ihm oder Fabian oder dem Sohn eines amerikanischen Senators um den Bart ging.
Bevor ich den Raum verlassen konnte, klopfte Fabian mit einem Löffel gegen sein Weinglas, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen. Dann erhob er sich, um selbst etwas zu sagen.
»Ich weiß, daß die meisten von euch morgen früh raus
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