Engel im Schacht
ständig vor sich hin schimpfen und so ausschauen, als würden sie dem nächstbesten Passanten, der sie anspricht, an die Gurgel gehen.«
Ich klang bitterer als beabsichtigt; die anderen traten beklommen von einem Fuß auf den anderen. Ich schlang die Arme um meinen Körper, versuchte, meine Wut loszukriegen. Als Deirdre laut ächzte, als habe ihr jemand in den Bauch getreten, klang das weit, weit weg.
»Immer mit der Ruhe, Vic.« Marilyns Stimme - professionell, ruhig, an verzweifelten Frauen und in Personalfragen geschult -, holte mich wieder in die Realität zurück. »Nicht alle Pflegeheime sind so schrecklich. Findest du nicht, daß du dem System in so einem Fall eine Chance geben solltest? Das ist doch sicher besser, als die Kinder ohne Essen oder sanitäre Einrichtungen da unten zu lassen.«
»Vielleicht könnte ich mit ihr reden«, meinte Deirdre vorsichtig, als habe sie Angst, ich könne ihr das nicht zutrauen.
»Gute Idee.« Marilyn hörte sich an wie eine Beraterin, die die erfolgreiche Bewältigung von Problemen lobt. »Weißt du, Deirdre erledigt ziemlich viel für Home Free, die Leute vom Obdachlosenprogramm.«
Das hatte ich nicht gewußt. Den Namen »Home Free« kannte ich nicht, denn die ganze Energie, die mir noch für ehrenamtliche Tätigkeiten bleibt, stecke ich in Frauengruppen, deshalb weiß ich auch nicht so gut Bescheid über das, was sonst noch so in anderen ebenso wichtigen Bereichen läuft.
Deirdre musterte mich angriffslustig, als wolle sie mich herausfordern, obwohl sie Angst vor mir hatte. Ihr Gesichtsausdruck zwang mich dazu, den Rückzug anzutreten. »Wenn du sie überreden kannst, sich helfen zu lassen, um so besser. Ich dachte, Lotty könnte sich das asthmatische Kind anschauen - das würdest du doch machen, oder...?« »Klar, Vic. Aber laß dich mal nicht von deinem Idealismus übermannen. Weißt du, warum wir die TB vor fünfzehn Jahren, als wir die Gelegenheit dazu hatten, nicht ausrotten konnten? Weil die Leute ihre Medikamente nur nehmen, wenn wir sie persönlich dazu auffordern. Ich kann mir hundert kranke, verzweifelte Menschen im Monat anschauen - und das tue ich auch -, aber das macht sie noch lange nicht gesund.«
Ich brachte ein Grinsen zustande. »Lotty, wenn ich die Kleine dazu überreden kann, zu dir in die Klinik zu kommen, bleibe ich mit meiner Smith & Wesson so lange bei ihr, bis sie alle Medikamente genommen hat, die du ihr verschreibst.«
»Nicht schlecht«, meinte Marilyn. »Und du stellst dich dann hin wie Dirty Harry und sagst: » Make my day: Nimm deine Antibiotika.«
Sogar Lotty mußte lachen. Sal rundete den Scherz mit einer kleinen Zote ab, und Marilyn lachte schallend.
Im Schutz des Gelächters flüsterte Deirdre mir zu: »Ich weiß, du traust mir das nicht zu, aber sag mir doch einfach, wo dein Büro ist.« Meine Angst, sie zu verletzen, ließ mich schneller, als ich eigentlich wollte, auf ihr Angebot eingehen. »Klar. Versuchen wir's einfach. Ich habe mein Büro im Pulteney-Building, an der Südwestecke Wabash/Monroe. Wie wär's morgen so gegen drei?«
»Du kommst doch am Mittwochabend mit der ganzen Horde. Morgen stehe ich den ganzen Tag in der Küche.«
Ich zuckte zusammen bei der Gehässigkeit in ihrer Stimme. Sie und Fabian gaben eine Party für meinen Lieblingsprofessor in Jura. Ich war erstaunt, aber auch erfreut gewesen, eingeladen worden zu sein. Doch jetzt ärgerte ich mich, weil Deirdre mich so aus dem Gleichgewicht brachte und weil ich selbst versuchte, sie zu beschwichtigen. Jedenfalls fuchtelte ich wild mit den Händen herum, als ich ihr antwortete. »Hoffentlich machst du dir nicht meinetwegen soviel Mühe; ich esse alles. Kalte Pizza, Sachen von McDonald's, alles.«
Sie fletschte die Zähne bei dem Versuch zu lächeln. »Ich mach' das nicht für dich, Vic: Die ganzen Schnösel aus der Stadt kommen, um zu sehen, wie Fabian Manfred Yeo um den Bart streicht, damit er die Stelle als Bundesrichter kriegt, auf die er's abgesehen hat. Und ich schnipsel den lieben langen Tag Gemüse und fülle so viele verdammte Windbeutel wie möglich, damit die Leute auch merken, was für ein toller Gentleman Fabian ist.« Sie schloß mit der grimmigen Parodie eines englischen Akzents. Ich zuckte zusammen. »Wenn das alles so schrecklich ist, komme ich lieber nicht - dann mußt du einen Windbeutel weniger füllen.«
»Bitte nicht, Vic - du wirst das einzige menschliche Wesen im Haus sein. Außerdem wollte Manfred, daß du kommst. Fabian hat ihn
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