Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel im Schacht

Engel im Schacht

Titel: Engel im Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
Vom Netzwerk:
Furcht.
    »Ist kein Junge«, sagte das mittlere Kind so leise, daß ich es kaum verstand. »Ist Jessie. Ist ein Mädchen. Ich bin der einzige Junge.«
    »Tja, vielleicht sollten wir Jessie nach oben bringen, wo sie frische Luft kriegt. Wie heißt du denn, Kleiner?«
    »Red nicht mit ihr. Hab' ich euch nicht gesagt, ihr sollt mit niemandem reden, bevor ich euch das nicht ausdrücklich sage?« Die Frau packte den Jungen an den Schultern und schüttelte ihn. Er sank mit einem halbherzigen Jammern gegen ihren Körper. Die Schatten des Boilers ließen ihr Gesicht und ihre Haare grau erscheinen. Sie war höchstens dreißig, aber wenn ich ihr auf der Straße ohne ihre Kinder begegnet wäre, hätte ich sie wahrscheinlich für siebzig gehalten. »Wie lange leben Sie schon hier unten?«
    Sie starrte mich an, antwortete aber nicht. Vielleicht hatte sie mich schon ein dutzendmal hier unten beobachtet; vermutlich wußte sie, daß ich allein war, daß ich keine Bedrohung für sie darstellte.
    »Sie wollen das Haus in sechs Wochen abreißen«, sagte ich. »Wissen Sie das?« Sie starrte mich weiter an, bewegte den Kopf aber nicht.
    »Hören Sie zu. Es geht mich ja nichts an, wenn Sie hier unten bleiben wollen, aber Ihren Kindern tut das sicher nicht gut. Das ist schlecht für die Augen, für die Lunge, für die Moral. Wenn Sie Jessie wegen ihres Asthmas zum Arzt bringen wollen, kann ich Ihnen einen empfehlen, der nichts dafür verlangt.«
    Ich wartete eine ganze Weile, bekam aber keine Antwort. »Ich muß mich jetzt um die Kabel hier kümmern, und dann gehe ich wieder rauf in mein Büro. Das hat die Nummer Vier-Null-Sieben. Wenn Sie sich die Geschichte mit dem Arzt über legt haben, kommen Sie doch zu mir, und ich bringe Sie hin. Jederzeit.« Ich wandte mich dem Sicherungskasten zu. Die Culpeppers kappten manchmal Drähte oder unterbrachen das Heißwassersystem, um uns schneller aus dem Haus zu vertreiben. So hatte ich mir in meiner Freizeit ein beträchtliches Wissen über Elektrik angeeignet. Doch heute war ich nicht gefordert: Ein Brett hatte sich von der Decke gelöst, einige Drähte mit sich gerissen und unbrauchbar gemacht. Ich holte einen Hammer aus meinem Gürtel, suchte zwischen den Kisten nach ein paar alten Nägeln und stieg auf eine Holzkiste, um das Brett wieder festzunageln. Die Drähte zu reparieren erforderte mehr Geduld als Know-how - man mußte die empfindlichen Kupferdrähte freilegen, die losen Enden miteinander verknüpfen und sie dann mit Klebeband verzwirbeln.
    Es nervte mich ziemlich, mit den stummen Zuschauern im Rücken zu arbeiten. Jessies pfeifendes Atmen hatte sich ein wenig beruhigt, als sie merkte, daß ich der Familie nichts tun würde, und auch das kleine Baby hatte aufgehört zu jammern. Ich bekam eine Gänsehaut, weil sie mich beobachteten, aber ich versuchte trotzdem, mir Zeit zu lassen und den Schaden so gut zu reparieren, daß ich die nächsten sechs Wochen Ruhe hatte.
    Während ich Drähte freilegte, klebte und nagelte, überlegte ich, was ich mit den Kindern machen sollte. Wenn ich jemanden vom Sozialamt anrief, kamen die mit Polizisten und Bürokraten an und steckten die Kinder in ein Heim. Aber wie sollten sie hier unten bei den Ratten überleben?
    Als ich fertig war, ging ich wieder hinüber zum Boiler. Die vier schraken zusammen. »Hören Sie zu. Oben gibt es jede Menge leere Räume und auch ein paar Toiletten. Ich kann Sie in ein leerstehendes Büro lassen. Wäre das nicht besser als das hier unten?« Sie gab keine Antwort. Warum sollte sie mir vertrauen? Ich versuchte sie zu überzeugen, aber meine Worte klangen so drängend, daß sie zurückwich, als habe ich sie geschlagen. Ich hielt den Mund und dachte eine Weile nach. Schließlich nahm ich einen Zweitschlüssel von meinem Schlüsselring. Wieso sollte sie mir vertrauen, wenn ich ihr nicht vertraute?
    »Damit können Sie alle Treppenhaustüren aufschließen, auch die zum Keller. Ich sperre die Kellertür zu, um mein Werkzeug zu schützen, wenn Sie also doch nach oben kommen sollten, schließen Sie bitte die Tür hinter sich ab. In der Zwischenzeit lasse ich meine Arbeitslampe an - das hilft Ihnen gegen die Ratten. Okay?« Sie gab immer noch keine Antwort, streckte nicht einmal die Hand nach dem Schlüssel aus. Jessie flüsterte: »Na mach schon, Mama.« Der Junge nickte hoffnungsvoll, doch die Frau nahm den Schlüssel immer noch nicht. Ich legte ihn auf einen Sims beim Boiler und wandte mich zum Gehen.
    Dann tastete ich mich zur Treppe

Weitere Kostenlose Bücher