Engel im Schacht
ihrer Aktentasche verschwinden ließ. Auch alle anderen fingen an zusammenzupacken.
Sal klopfte auf den Tisch. »Mädels, seid ihr zur Abstimmung bereit? Nein? Na ja, kein Wunder. Wir streiten uns genauso leidenschaftlich darüber, welches Klopapier wir kaufen wollen, wie darüber, ob wir die Kinder zum Aidstest bringen sollen. Mädels, ihr solltet lernen, eure Kräfte einzuteilen, sonst habt ihr mit Fünfzig keine mehr. Wenn ihr nächsten Monat immer noch nicht wißt, was ihr wollt, nehmen Marilyn und ich euch die Entscheidung ab.«
»Yes, Ma'am!« grüßte jemand Sal zackig, als die Frauen sich in Richtung Tür drängten. Deirdre Messenger kam zu mir herüber. »Wieso bist du denn erst um halb neun gekommen, Vic?«
Ihr scherzhafter Tonfall nervte mich, denn er deutete auf eine Nähe hin, die zwischen uns nicht existierte. Ich hatte sie in Collegezeiten flüchtig gekannt, weil ich zusammen mit ihrem Mann Jura studiert hatte - sie hatte immer im Tagesraum der juristischen Fakultät mit uns Mittag gegessen. Damals war sie hübsch gewesen, irgendwie verträumt, feenhaft. Zwanzig Jahre später war ihr maisblondes Haar nur einen Ton dunkler als damals, aber ihre Verträumtheit hatte sich in Anspannung und Verbitterung verwandelt.
Ich wurde also nicht ausfallend, denn solche Kränkungen verkraftete sie schlecht. »Ach, nur wieder die üblichen Problemchen mit dem Computer plus die Aufregungen um mein verfallendes Büro. Ich hab' einen ganzen Bericht neu schreiben müssen, weil der Computer abgestürzt ist. Zum Glück hab' ich meine Akten in letzter Zeit ordentlich geführt, also hab' ich ziemlich schnell eine Rohfassung von dem neuen Schrieb hingekriegt.«
Marilyn Lieberman und Lotty waren stehengeblieben, um sich meine Leidensgeschichte anzuhören. Ihnen erzählte ich auch noch von meiner Begegnung mit der obdachlosen Frau und ihren Kindern.
»Vic! Du hast sie doch nicht dort unten gelassen, oder?« rief Marilyn aus. Ich wurde rot. »Was hätte ich denn sonst machen sollen?«
»Bei den zuständigen Behörden anrufen zum Beispiel«, meinte Lotty knapp. »Für was hast du denn deine Freunde bei der Polizei?«
»Und was hätten die dann gemacht? Die hätten sie wegen Vernachlässigung ihrer Kinder festgenommen und die Kids in Pflege gegeben.«
Lotty zog ihre dichten Augenbrauen zusammen. »Das eine Kind hat Asthma, sagst du? Wer weiß, wie die Lunge von den anderen aussieht. Manchmal denkst du einfach nicht mit, Vic: In so einem Fall wäre Pflege vielleicht nicht das Schlechteste.« Ihr Wiener Akzent wurde stärker; das war das sicherste Zeichen dafür, daß sie wütend war. Marilyn schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das Problem sieht doch folgendermaßen aus: Es gibt natürlich Frauenhäuser, in denen auch Kinder unterkommen können. Aber die sind nicht immer sicher. Die meisten haben auch nur nachts geöffnet, und die Frauen müssen sehen, wie sie über den Tag kommen.«
»Eigentlich wollte ich vorschlagen, daß sie hierherkommt«, sagte ich, »aber ich weiß, daß ihr nicht... «
»Das geht nicht«, fiel Marilyn mir ins Wort. »Wir können keine Ausnahmen machen; wir brauchen alle Betten für Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden.«
»Was willst du jetzt machen?« Deirdre war ein wenig abseits gestanden, während wir uns unterhalten hatten, als fühle sie sich nicht zu der Gruppe gehörig, wolle aber auch nicht gehen.
Ich atmete tief durch und sah die Frauen herausfordernd an. »Ich habe ihr gesagt, sie kann in eins von den freistehenden Büros oben ziehen. Schließlich wird der Kasten sowieso in ein paar Wochen abgerissen.«
Sal Barthele, die sich gerade mit der Leiterin unterhalten hatte, bekam das Ende unseres Gesprächs mit. »Du hast wohl deinen weißen Liberalenverstand verloren, Vic. Was sagt denn Conrad dazu?« Sal, selbst eine Schwarze, interessiert sich sehr für das Auf und Ab meiner Beziehung mit einem schwarzen Mann.
»Ich gehe mit dem Typ, aber ich bitte ihn nicht jedesmal, bevor ich mir die Nase putze, um Erlaubnis.«
»Mir geht's ja auch gar nicht um seine männliche Psyche, Schätzchen. Viel wichtiger finde ich: Was sagt seine Bullenpsyche dazu?«
»Wenn ich ihm das erzähle, stimmt er wahrscheinlich Lotty zu. Aber dann mischen sich die Behörden ein, die Kinder kommen in drei unterschiedliche Heime, wo mindestens eins sexuell belästigt wird. Die Mutter verliert das bißchen Realitätssinn, das sie noch hat, und wird auch eine von den Frauen auf der Michigan Avenue, die
Weitere Kostenlose Bücher