Engel im Schacht
bezeichnet hatte - um die Sehnsucht nach Liebe und Tod, unter der Teenager oft leiden.
Ich hoffte auf weitere Gedichte oder ein Tagebuch, fand aber keine so persönlichen Dinge mehr. Nur am Rand der Notizen, zwischen wilden Schmierereien, stand die eine oder andere Bemerkung. »Warum? Warum nur?« war da zu lesen, und dazu strenge Ermahnungen zu schweigen, in Englisch und Französisch. Die Handschrift wirkte noch jugendlich, war aber so winzig, daß die Verfasserin offenbar ihre eigene Anwesenheit von den Blättern verbannen wollte.
Zwischen den Papieren steckte ein Schnappschuß von Emily mit Joshua und Nathan. Sie hielt das Baby im Arm, Joshua an der Hand. Vielleicht stammte das Bild aus dem vergangenen Sommer: Jedenfalls trug sie die schlammig gelbe Bluse, mit der ich sie am letzten Samstag gesehen hatte, und Shorts. Sie und Joshua starrten mit ernstem Gesicht in die Kamera. Ich verstaute das Foto in meinem Notizbuch und setzte meine Suche fort.
In einem Brief dankte Emilys Großmutter ihrer Enkelin in der runden Schrift, die die Schüler in den dreißiger Jahren gelernt hatten, für ihre Karte und beschrieb den Frühling in Du Quoin, Illinois.
Die Katze, so erzählte sie, fing nun Spatzen im Garten statt Mäuse in der Küche, und die Studenten stach bei dem warmen Wetter der Hafer. Sie hoffte, daß Emily sich anständig benahm und die Gelegenheiten nutzte, die sich ihr ausbildungsmäßig boten. Ich notierte mir die Adresse, fragte mich jedoch, ob sie, die sich selbst als Maus sah, sich an ihre Großmutter wenden würde, die so prosaisch von ihrer eigenen blutdürstigen Katze berichtete.
Dann warf ich einen hastigen Blick in Emilys Schrank. Die Mädchen heutzutage tragen alles, von Leggings und Tops bis zu abgerissenen Jeans und Großmutterkleidern. Mädchen, deren Väter so viel verdienten wie Fabian, hatten Schubladen voll mit Bodys und spitzenverzierten Slips und Hemdchen. In Emilys Schrank fand ich nur das pinkfarbene Wollkleid, das sie bei der Party zu Manfreds Ehren getragen hatte, sowie ein paar von Deirdres abgelegten Kleidern und zwei Faltenröcke, die seit meiner eigenen High-School-Zeit aus der Mode waren. Ich machte die Tür zu, verlegen darüber, daß ich meine Nase in ein so trostloses Leben gesteckt hatte. Danach hatte ich nicht mehr den Nerv, auch noch ihre Frisierkommode durchzustöbern , nicht einmal dann, wenn ich gehofft hätte, dort doch noch ein Tagebuch zu finden. Statt dessen legte ich die schlichten Baumwollschlüpfer, die heraushingen, in die Schubladen zurück und schob sie zu.
Ich nahm willkürlich ein paar Bücher in die Hand. Neben den alten Klassikern Wilbur und Charlotte und Laura Ingalls Wilder fanden sich einige Romane von Marion Zimmer Brad-ley und Ursula K. LeGuin. Emily war ein verträumtes Kind, vielleicht auch ein Mädchen, das sich aus der schmerzlichen Welt zurückzog, in der es lebte. Ich notierte mir eine Auswahl der Titel neben der Adresse der Großmutter und überlegte, ob sie vielleicht noch einmal von Bedeutung sein würden. Ein dickes Buch lag in einer Ecke, die eine Kante ragte kaum sichtbar hinter der Heizung hervor. Ich legte mich flach auf den Boden, um es herauszuziehen. Es handelte sich um Churchills Aufzeichnungen zur europäischen Geschichte. Auf die Innenseite des Schutzumschlags hatte Fabian geschrieben: »Für Emily, das Alpha und das Omega. Alles Gute zum Geburtstag. Alles Liebe, Vater.« Das Alpha und das Omega? Abgesehen davon, daß das eine merkwürdige Widmung für eine Tochter war, hatte ich auch Fabians Verhältnis zu Emily nie so gesehen. Doch dann fiel mir wieder ein, wie er mich am Samstag, als ich das Haus verlassen hatte, ebenfalls durch seinen zärtlichen Umgang mit ihr überrascht hatte.
Noch etwas lag hinter der Heizung. Neugierig streckte ich die Hand aus und zog einen Baseballschläger, handsigniert von Nellie Fox, heraus. Er war mir bereits am Mittwochabend in dem Schirmständer im Flur aufgefallen. Am oberen Ende klebte eine verkrustete Masse. Ich betrachtete den Schläger verblüfft. Wohl wissend, was das war, aber unwillig, dieses Wissen zu akzeptieren, steckte ich das Ding wieder hinter die Heizung und flüchtete aus dem Haus.
Was steckt in einem Gedicht?
Ich fuhr zum See hinüber. Der Boden war immer noch braun, und die Stürme des letzten Winters hatten über den Steinen häßliche Hügel aufgeworfen. Ich ging hinaus zu dem Kap, das an der Fifty-fifth Street nach Osten in den See hinausragt. Es war kühl; die im Norden
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