Engel im Schacht
hätte, waren alle verschwunden - ersetzt durch schicke Bistros, in denen jetzt Yuppies wie ich speisen.
Schließlich fand ich ein Lokal, wo ich eine Minestrone aus dem Beutel und einen Teigbatzen bekam, der sich »Bagel« schimpfte, dann fuhr ich zum Herald-Star weiter. Ohne mein Modem mußte ich mich eben wieder schinden wie ein Schnüffler der alten Schule. Zum Glück trug ich meine Nike-Turnschuhe, war also genau richtig gekleidet für die Rolle, die ich spielte.
Ich ging die Treppe zur Redaktion im ersten Stock hinauf und dann durch das Labyrinth von Arbeitsnischen, bis ich vor Murray Ryersons Schreibtisch stand. Was für ein Glückstag! Murray war da, hing am Telefon. Er hob den Blick, als ich ihm auf die Schulter tippte, beendete das Gespräch und stand auf, um mich zu umarmen. Er sieht aus wie ein übergroßer Wikinger mit rotem Bart und mißt gute zwanzig Zentimeter mehr als ich mit meinen immerhin auch schon mehr als einssiebzig. »Wie die kleine Detektivin Nancy Drew höchstpersönlich.« Seine Stimme dröhnte durchs ganze Stockwerk; eine Frau in der nächsten Nische streckte den Kopf heraus, um mich anzustarren.
Murray, der nichts davon zu merken schien, fuhr mir durch die Haare. »Da sind ja schon ein paar graue drunter. Es ist schon so lange her, daß du mit mir gesprochen hast; du bist alt geworden in der Zwischenzeit.«
Ich befreite mich aus seiner Umklammerung; die Frau nebenan zog den Kopf wieder ein. »Das sind nur die Auswirkungen der langjährigen Zusammenarbeit mit dir.« »Zusammenarbeit?« entrüst ete er sich. »Wann haben wir denn jemals zusammengearbeitet? Wenn ich dir was entlockt habe, dann nur mit dem Brecheisen, und auch das bloß, wenn du mir noch einen Gefallen geschuldet hast. Was mich zu dem Gedanken führt: Warum bist du überhaupt hier?« Murray und ich kennen uns seit meiner Zeit als Pflichtverteidigerin. Damals war er noch ein Grünschnabel gewesen in seinem Metier und wollte herausfinden, wer dem Staatsanwalt die Akten der Verteidigung zuspielte. Und mich hatte er seinerzeit wegen der Story interviewt. Obwohl ich den Stellvertreter meines Chefs verdächtigte, hinderte mich doch das Motto der South Side - »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus« - daran, ihn zu verpfeifen. Murray bekam die Information dann schließlich von einer verstimmten Sekretärin.
Später, als er bereits einer der herausragenden Enthüllungsreporter der Stadt war, kam er trotzdem wieder zu mir, wenn er Storys brauchte; ich rückte nicht mit Informationen heraus, um Klienten oder Freunde zu schützen; er wurde wütend; ich verbrannte mir die Finger. Vorübergehend verschlimmerten wir das Chaos noch, indem wir miteinander ins Bett gingen, und diese Episode trug zu den zwiespältigen Gefühlen bei, die wir bei jedem neuen Zusammentreffen hatten. Freuten wir uns auf ein Wiedersehen, oder vermieden wir es, so gut es ging? Brachte es uns weiter, oder verletzten wir uns gegenseitig? Wir wußten das beide nicht so genau. »Tja, da du ohnehin schon weißt, daß ich da bin, weil ich etwas von dir will, rede ich nicht mehr lange um den heißen Brei herum: Ich würde mir gern ein paar Geschichten in deiner Nachrichtendatenbank ansehen.« Murray hatte Zugang zu den Nachrichtendiensten von Times, Tribüne, Herald-Star und Dow Jones. »Nun mach mal halblang, Klein Nancy, das hier ist keine öffentliche Bibliothek.« »Okay, dann geh' ich eben in die Bücherei. Die Polizei hat meinen Computer nach Deirdre Messengers Tod beschlagnahmt, weil sie glaubt, mir so eine Erklärung entlocken zu können, warum der Mörder meine Festplatte gelöscht hat. Vielleicht hat's auch Deirdre gemacht, weil sie schlechte Laune hatte. Und die Culpeppers haben das Pulteney am Mittwoch zugenagelt - mein Modem übrigens gleich dazu. Sonst würde ich dich nicht um den Gefallen bitten. Aber die Bücherei ist ein guter Tip. Danke.« Ich schlenderte zur Tür. Murray holte mich am Lift ein.
»Nicht so schnell, Vic. Hat die Geschichte mit Messenger zu tun? Ich war letzte Woche in Washington - im Moment brüte ich gerade über dem Wirtschaftsbericht des Kongresses. Ich hab' ganz vergessen, daß du hier einen Logenplatz hast. Was ist mit Deirdres Kindern? Die waren gestern und vorgestern Thema Nummer eins in den Schlagzeilen. Irgend jemand hat gesagt, Messenger hat seine Frau verprügelt und sie umgebracht, weil sie eine Affäre hatte.« »Könnte schon sein«, machte ich ihn heiß.
»Mein Gott, Warshawski.« Er machte einen Knicks,
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