Engel sterben
die nächste Frage ist Anja nur allzu gut vorbereitet, denn genau darüber hat sie schon den ganzen Morgen nachgedacht. Die Hamburger möchten wissen, wie Winterbergs ihre Tochter schützen.
»Wie ich schon sagte: Von Panikstimmung ist hier nichts zu spüren. Unsere Lütte läuft weiterhin unbeaufsichtigt durchs Dorf, schließlich ist sie vor zwei Monaten sechs geworden, sie geht nicht mit Fremden mit.«
Anja kann das Zittern ihrer Stimme kaum verbergen. Aber vielleicht ist davon am anderen Ende der Leitung nichts zu hören.
»Nein, wir haben wirklich keine Angst, nicht hier in Kampen. Das Mädchen ist doch aus List verschwunden.«
Kampen und List, das ist wie Blankenese und Harburg. Zwei Welten, die nur zufällig auf einer Insel liegen. Das wissen die Hamburger Feriengäste ebenso gut wie Anja selbst, sonst würden sie sich gleich woanders einmieten. Zur Hälfte des Preises, den sie jedes Jahr klaglos für das ehemalige Kühlhaus auf dem hinteren Grundstück der Familie Winterberg zahlen.
»Ja, natürlich kann ich Ihre Bedenken verstehen, aber wollen Sie es sich nicht noch mal überlegen? Es ist ja noch eine ganze Woche bis zu Ihrer Ankunft. Bis dahin wird doch der Entführer längst gefasst sein. – Natürlich halte ich Ihnen das Haus frei. – Gut, wir telefonieren dann in der nächsten Woche noch mal. Auf Wiederhören. Und grüßen Sie bitte Ihre Töchter von Mette.«
Fünftausend Euro Mietausfall, denkt Anja, das darf nicht sein. Im letzten Jahr haben sie das Ferienhaus aufwendig renovieren lassen. Das Geld kam von den Schwiegereltern, die es für eine Weltreise im nächsten Jahr angespart hatten. Diese Tour ist seit Jahrzehnten deren großer Traum, und wenn Sven und Anja ihre Schulden nicht rechtzeitig begleichen können, dann wird er platzen. Was soll sie nur tun? Am liebsten würde sie Sven im Kommissariat anrufen, aber er schätzt es nicht, wenn sie ihn im Dienst stört.
Anja hat ihren Mann seit gestern früh nicht mehr gesehen. Am Abend muss er erst weit nach Mitternacht nach Hause gekommen sein, da hat sie schon geschlafen. Und heute Morgen war Sven bereits weg, als Anja um sieben Uhr aufgestanden ist. Nur eine kurze Notiz lag auf dem Küchentisch. Anja hat sie schon mehrmals gelesen, jetzt greift sie wieder nach dem Zettel.
Liebste,
tut mir leid, ich muss los. Aber ab heute wird alles besser. Flensburg schickt zwei Leute zur Verstärkung der Mordkommission. Wir lassen die Entführungstheorie langsam fallen. Es gibt kein Erpresserschreiben, keinen Anruf, nichts. Also ist ein Tötungsdelikt nicht mehr auszuschließen.
Alles Weitere heute Abend.
Kuss, Sven
Die Worte Mordkommission, Entführungstheorie und Tötungsdelikt tanzen einen schmutzigen Tanz in Anjas Kopf. Sie wirbeln wie betrunken im Kreis herum und reißen andere Worte mit sich. Mietausfall, Panikstimmung, Katastrophenbericht.
Panikstimmung. Genau das ist es. Wenn sie, Anja Winterberg, nicht sehr aufpasst und sich ab sofort mächtig zusammenreißt, dann wird sie ganz schnell von genau dieser Panikstimmung erfasst werden. Sie wird mit hysterischem Blick jeden Schritt ihrer Tochter verfolgen und dem Kind die Ferien vor der Einschulung zur Hölle machen.
Gerade ertönt aus dem Radio, das die ganze Zeit leise im Hintergrund gelaufen ist, das Zeitzeichen. Zwölf Uhr. Wie immer seit der Entführung beginnen die Nachrichten mit einem Bericht über den Stand der Ermittlungen. Es gibt nicht viel Neues. Zum wiederholten Mal werden das Aussehen und die Kleidung des vermissten Mädchens beschrieben. Eine orangefarbene Shorts und ein weißes Top. An den Füßen hat es hellgrüne Flip-Flops getragen. Niemand hat die Kleidung bisher gefunden, niemand hat auch nur eine Spur von dem Mädchen entdeckt, dessen Verschwinden an diesem Nachmittag genau achtundvierzig Stunden zurückliegen wird.
Wenn ein vermisstes Kind nicht nach zwei Tagen wiederauftaucht und wenn es gleichzeitig kein Anzeichen für eine Entführung gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern ihr Kind nie mehr wiedersehen werden, hoch, sogar sehr hoch. Das sagt der Nachrichtensprecher natürlich nicht, aber Sven hat es gesagt. Noch am Abend der Entführung, als er kurz vor Mitternacht nach Hause kam.
»Über 95 Prozent dieser Kinder sind nach zwei Tagen bereits tot, von den restlichen fünf Prozent sterben drei Prozent innerhalb der nächsten Tage.«
Das genau waren Svens Worte, die seitdem beständig in Anjas Kopf herumspuken und sich gerade wieder als Lieblingsnahrung
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