Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
aber er wusste nicht, woher. Die sinnlich übersinnliche Selma vom Ottensteiner Stausee war ihm auch kurz erschienen, wie eine lockende Loreley. Auf der zwanzigminütigen Fahrt zu seinen Eltern hatten sie miteinander geredet, hauptsächlich hatte sie geredet, ein Loblied auf die wunderbare Gegend, auf die Natur und die Menschen hier im Waldviertel, ein Loblied, das einen Landflüchtling wie Bergmann automatisch misstrauisch machte, weil er aus eigener Erfahrung wusste, dass sich die Unzufriedenheit mit einer Situation anfangs meist darin äußerte, dass man diese mit allen Mitteln zu verteidigen und schönzureden suchte. Aber was sollte es. Selma war sechsundzwanzig, jobbte als Wander- und Mountainbike-Führerin für zwei Hotels, und würde sich mit dem Ersparten bald einen dreimonatigen Trip nach Südostasien leisten, wo es bestimmt auch wieder wunderbar sein würde, die Menschen und die Strände und so weiter. Er hatte ihr in keinem Punkt widersprochen, wozu auch, sie war klug, sah gut aus, nahm allem Anschein nach keine Drogen, die Chancen standen gut, dass sie den Eintritt in die Wirklichkeit ohne langfristige Schäden überstehen würde. Wobei es auch einen Moment gegeben hatte, kurz bevor sie beim Haus seiner Eltern angekommen waren, wo er sich beinahe von ihrem Enthusiasmus und ihrem wolkenlosen Strahlen hatte anstecken lassen. Wo sich für einen Augenblick der Vorhang geöffnet hatte, hinter dem all die anderen Optionen seines Lebens lagen – einige schon verrottet, andere leicht verstaubt, ein paar noch schwach glänzend. Doch der Blick auf diese Bühne bedeutete Wehmut, oder Sehnsucht, oder Verlust. Und mit dem Zuschlagen der Tür ihres alten Passat ließ er erleichtert auch den Vorhang fallen.
Als er den Geruch von Fleischbrühe wahrnahm – am Sonntag begann sein Mutter Punkt acht Uhr mit der Zubereitung des Mittagsmahls –, wusste er, dass es Zeit war, das Bad zu verlassen und zum Frühstück zu erscheinen. Alles andere hätte bedeutet, dass er viel Schlaf nachzuholen gehabt hätte. Und warum wohl. Weil diese Stadt mit ihren Mördern und so weiter. Er duschte, zog sich an und ging in die Küche. Seine Mutter hantierte am Herd, summte noch ein paar Sekunden zur Musik aus dem Radio, bevor ihr Sohn es entnervt abdrehte.
„Entschuldigung … aber das ist so laut, da kann man sich überhaupt nicht unterhalten …“, er setzte sich an den Tisch, wo ein ernährungsphysiologisch bedenkliches Frühstück stand: Grammelschmalz, Rohwurst, Weißbrot, Ei et cetera.
„Die Maria war gerade da und hat Eier gebracht … weißt schon, die Mutter von der Theresa, deiner Schulkollegin … die hat am Mittwoch ihr drittes Kind bekommen, ein Mäderl …“, aus einer Thermoskanne füllte sie eine Tasse mit Kaffee und stellte sie ihm hin.
„Schön … da ist die Oma sicher stolz“, zur Abwechslung bemühte sich Bergmann erst gar nicht, das leidige Thema seiner Sexualität zu umschiffen, sondern schleuderte direkt den Anker hinein. Ein paar Minuten schwiegen sie beide.
„Bist du zum Essen da?“
„Sicher … glaubst du, das lasse ich mir entgehen.“ Sie wandte ihm kurz ihr Gesicht zu und lächelte.
Kurz vor neun zog er sich eine alte Hose und ein Hemd seines Stiefvaters an und ging zum Schuppen hinter dem Haus. Mit ziemlicher Sicherheit hätte es niemanden aus der Nachbarschaft aufgeregt, wenn er die Kreissäge angeworfen hätte. Immerhin ging er seinen Eltern zur Hand. Aber an einem Sonntag verstieß Lärm erzeugende Arbeit nun einmal gegen das Gesetz. Und da jeder in der näheren Umgebung wusste, welchen Beruf er ausübte, wollte er nicht das kleinste Risiko eingehen, dass ihm jemand unterstellte, er könnte sich sowieso alles erlauben. Das Gegenteil ist der Fall, murmelte er, als er Handsäge, Axt und den Auflagebock aus dem Schuppen holte, viel weniger kann ich mir erlauben. Er legte den ersten Stamm auf den Bock und legte los.
Zweimal hatte er seinen Arbeitsplatz im Garten bereits verlegt, um nicht in der prallen Sonne sägen zu müssen, als Leitner anrief. Gar nicht so easy, am Wochenende die Sekretariate von den Schulen zu erreichen und die gesammelten Jahresberichte mit den Klassenfotos zu bekommen. Aber nach zwei Weißbieren hätte er so richtig losgelegt. Na bravo, dachte Bergmann, da hat wieder wer den Ruf der Wiener Polizei verteidigt. Er hätte dem Bulgaren eben die Bilder vorgelegt, der hätte den Burschen, der ihn überfallen hat, eindeutig identifiziert. Patrick Senitschnig, fünfzehn Jahre alt,
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