Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
weißt schon, Traudi …“
Bergmann wandte sich fragend an die Rezeptionistin.
„Sie meint den Herrn Marsant … dem hat an der linken Hand der kleine Finger gefehlt …“
„Und mit dem ist Schäfer am Tisch gesessen?“
„Ja … warum?“
Warum, weiß ich selbst nicht, dachte Bergmann. Aber das mit den vier Fingern: das erinnert ihn an etwas, da läutete eine kleine Glocke, von der er nicht wusste, wer an ihrem Seil zog.
Eine gute Stunde verbrachte er am Stausee, an einer schwer zugänglichen Stelle, die von der Masse an Sonntagsausflüglern verschont blieb. Erst einen Tag hier und schon hat mich das Einheimischen-Gefühl wieder, dachte er, als er sich nackt im Wasser treiben ließ. Vielleicht sollte er noch einen Tag anhängen; wenn er vorgab, dass vor Ort weitere Untersuchungen nötig wären, die mit Schäfers Verschwinden zu tun hätten, würde ihn bestimmt niemand verdächtigen, einfach blau zu machen. Das Problem war, dass er so einen gestohlenen Tag nicht genießen könnte. Und soweit er es überblickte, gab es hier in Wahrheit keine weiteren Recherchen. Im Gegenteil, er sollte so schnell wie möglich nach Wien zurück. Dieses Bündnis zur Optimierung gesellschaftlicher Strukturen – davon hatte auch dieser paranoide Richter erzählt; dass besagter Verein etwas mit dem Unfalltod des Bürgermeisters zu tun hätte. Und wenn Bergmann sich recht erinnerte, hatte Kovacs erzählt, dass auch Eisert, der verstorbene Bombenbauer, Mitglied bei diesem Bündnis war. Ziemlich sicher bedeutungslose Zusammenhänge; fast jeder in Österreich war Mitglied in irgendeinem Verein, anders ließ sich hierzulande kaum Karriere machen, vor allem nicht in öffentlichen Ämtern. Bergmanns oberster Chef, der Innenminister, war seines Wissens bei den Schützen, bei der Freiwilligen Feuerwehr, beim Jagdverband, beim Rotary Club und so weiter. Die Fäden, die diese Netzwerke der Macht zogen, überkreuzten sich immer wieder; und wenn man nur lange genug daran zog, hatte man im Falle eines Verbrechens in höheren Kreisen gleich einen ganzen Pulk an Politikern, Vorstandsmitgliedern, Juristen, Bankiers und dergleichen an der Hand, die bissig nach einem schnappten. Nein, von diesem Zusammenhang versprach er sich wenig. Aber diese Geschichte mit dem fehlenden Finger – die ließ ihm keine Ruhe.
26.
Er war in der Schweiz. Nachdem er zwei Tage durch mehr und weniger unwegsames Gelände marschiert war, hatte er von einem Grat aus in einiger Entfernung die Häuser eines Dorfes oder einer Kleinstadt erblickt. Sein Plan, auf direktem Weg ins Tal zu gelangen, wurde mehrere Male von steilen Abbrüchen und Wildwasser führenden Bächen vereitelt – fast schien es, als ob die Zivilisation ihn gar nicht zurückhaben wollte.
Dann war er auf eine Schotterstraße gestoßen, die in engen Serpentinen talwärts führte; ging sie entlang, bis er nach einiger Zeit ein Motorengeräusch hörte. Kurz überlegte er, um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten. Doch was sagen? Wie erklären? Wo er nicht einmal sein Äußeres kannte, das vermutlich dem eines entflohenen Sträflings ähnlicher war als dem eines harmlosen Wanderers. Er versteckte sich im Gebüsch und wartete … ewig, wie ihm schien, bis ein uralter Unimog im Schritttempo an ihm vorbeifuhr, am Steuer ein bärtiger Mann in blauer Arbeitsmontur. Das Fahrzeug trug ein Schweizer Kennzeichen. Die Schweiz? Dann war er nicht weit weg von zu Hause! Er wartete, bis das Brummen des Unimogs verklungen war, und folgte der Straße. Halb zog es ihn, halb hielt es ihn, murmelte er. Hin zu den Menschen, hin zu seiner Familie, zu seinen Freunden, zu ihr, die … er hatte nicht nur ihren Namen auf der Zunge, nein, ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Stimme, ihre Haut … er hatte den Namen des Mannes auf der Zunge, der ihn in den Wald getrieben hatte … und davor? … Phillipe … das Gesicht eines Freundes, oder eines Feindes? … Er wusste es nicht, er brauchte einen Arzt, das zuallererst, einen Doktor, der sein Gehirn wieder instandsetzte, der ihm half, die Trümmer seines Erinnerns und Empfindens zu ordnen … wo hat man dich zuletzt geseh’n … warum drängten gerade diese Reime und Lieder aus seiner Kindheit immer wieder so stark in den Vordergrund … Kleines Püppchen, freches Bübchen, wo hat man dich zuletzt geseh’n? Du wolltest doch zur Schule geh’n, was ist gescheh’n? Kleines Püppchen, freches Bübchen, die Welt ist groß und du bist klein, du kannst noch nicht alleine sein, sieh’ das doch
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