Engelsauge - Die Jagd beginnt (German Edition)
wieder meinen Traum mit den Gesichtern. Ich nannte ihn immer den gesichtslosen Traum, weil ich ihn über all die Jahre, seit dem Unfall, immer wieder bekam, er aber immer unvollständig und unklar blieb. In diesem Traum sah ich meine Eltern vorn sitzen und meine Mutter, wie sie sich kurz zu mir umdrehte und etwas sagte, was ich im Traum aber nicht verstehen konnte. Dann sah ich an meiner Fensterseite ein Gesicht, das ich nicht genau erkennen konnte, mir aber nach wie vor Angst einjagte und das Letzte in meinem Traum war ein eher freundliches Männergesicht, das immer deutlicher zu werden schien. Schweißgebadet wachte ich auf, wie so oft nach diesem Traum. Ich war mir sicher, dass diese Gesichter mir Antworten auf den Unfall geben konnten, ganz besonders nach Stewarts Behauptung, die meine Ahnungen nur noch bestätigten. Ich schaffte es wieder einzuschlafen und diesmal ohne weitere Träume.
Nach dem Aufstehen machte ich mich gleich auf den Weg zum Zeitungsverlag in Vanicy. Dort gab es ein großes Archiv mit allen Ausgaben, die in den letzten dreißig Jahren veröffentlicht worden waren und dank meines Universitätsausweises durfte ich auch gleich hinein. Studenten ließen sie immer ohne weitere Fragen ins Archiv gehen. Ich musste in das Jahr 1992 zurück und dank der dort gut aufgeführten Listen wurde ich auch schnell fündig. Sie widmeten dem Unfall, der sich damals im Sommer ereignet hatte, mehrere Seiten. Vermutlich, weil hier schon damals nicht viel passierte. Sie schrieben das Gleiche, was ich auch schon durch Stewart oder Gregory erfahren hatte, aber zumindest hatten sie hier noch zwei Bilder, die allerdings von etwas größerer Entfernung gemacht worden waren. Das eine zeigte ein kleines Mädchen, das völlig verängstigt wirkte und mit großen Augen in Richtung Kamera schaute. Mich auf diesem Bild wieder zu erkennen, war ein komisches und befremdliches Gefühl, da ich mich an nichts dergleichen mehr erinnern konnte. Das andere Bild zeigte das Autowrack, kurz nachdem es aus dem Meer geborgen worden war. Man konnte hinten eine fehlende Autotür sehen, Scheiben waren zersprungen und überall war das Auto zerbeult und zerkratzt. Ich schaute mir das Bild lange an, ehe ich es richtig bemerkte - die fehlende Autotür. Und zwar genau auf der Seite, an der ich als kleines Kind gesessen hatte. Ich konnte noch meinen Kindersitz auf dem Bild erkennen und die Erklärung dafür wurde nur schwammig beschrieben. Man nahm allgemein an, dass sie beim Zusammenstoß mit einem der Bäume ausgehebelt worden war und ich aus unerklärlichen Gründen aus dem Auto geschleudert worden bin. Man vermutete, dass die Eltern ihr Kind nicht angeschnallt hatten, was man, in Anbetracht der tragischen Reichweite des Unfalles in diesem Moment als Glück im Unglück ansehen konnte. Nach dem, was man mir über meine Eltern erzählt hatte, passte dies aber nicht zu ihnen, dennoch wollte ich Stew dazu befragen, denn er musste es ja damals mitbekommen haben.
Als ich gerade aus dem Gebäude gehen wollte, bereitete meine Narbe mir erneut Schmerzen, was mich, wie jedes Mal, für einen kurzen Moment ablenkte und der Grund war, weshalb ich im selben Augenblick in einen groß gewachsenen, etwas älteren Mann, der mir gerade entgegenkam, hineinrannte. Ich entschuldigte mich kurz und schaute ihn nur flüchtig an, ehe ich weiter zum Ausgang ging. Ich stand bereits mit der Türklinke in der Hand vor der Ausgangstür, als ich mitten in der Bewegung innehielt. Sofort drehte ich mich um und lief den Flur zurück, doch der Mann war nicht mehr zu sehen. Ich rannte noch etwas weiter, quer über den großen Flur und die Treppe hoch, aber ich konnte ihn nicht mehr finden. Ich war mir sicher, dass ich diesem Mann schon einmal begegnet war - und zwar in meinem Traum. Ich hatte ihn zwar nur flüchtig gesehen, doch etwas an seinem Blick ließ mich nicht mehr los. Zweifelsohne erinnerte ich mich an dieses Gesicht. Erst letzte Nacht hatte ich wieder diesen Traum gehabt und die Bilder hatte ich noch deutlich im Kopf.
Endlich schien sich ein kleiner Erfolg auf meiner langen Suche zu zeigen und um mir die Chance, meine einzige mögliche Chance auf weitere Antworten, nicht entgehen zu lassen, setzte ich mich vor dem Gebäude auf eine Bank und wartete geduldig, bis der Mann wieder herauskommen würde. Und das musste er ja schließlich irgendwann. Die Stunden vergingen, es wurde dunkel und die Kälte kroch langsam an meinen Beinen hoch, doch der Unbekannte ließ sich nicht
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