Engelsblut
Horndeich einen Stammbaum auf, aber so richtig wollten Äste und Stamm nicht zusammenpassen.
Das Mädchen verschwand.
Neben dem Aschenbecher stand ein Wasserglas, gefüllt mit dunkelbrauner Flüssigkeit. Sah aus wie abgestandene Cola. Daneben ein leeres Schnapsglas, dessen luftigen Inhalt Reinhard Zumbill gerade durch Tequila ersetzte. »Sie auch?«, fragte er.
Die beiden winkten ab.
»Herr Zumbill, wo ist Susanne Warka?«
Zumbill sah zu Margot, dann zu Horndeich. »Die sollte bei ihrer Tochter sein. Ist sie aber nicht. Keine Ahnung, wo sie steckt. Ich überfahr eine Frau, und sie – sie ist nicht da. War nie da, wenn ich sie gebraucht habe, die …«
Schlampe, ergänzte Horndeich in Gedanken auf gut Glück. Mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit.
Horndeich und Margot wechselten einen Blick. »Wer sagt es ihm?«, fragte dieser. Horndeich hatte keine Lust. Nein, er fühlte sich nicht in der Lage dazu. Er war dünnhäutiger geworden, seit er vor einem Dreivierteljahr angeschossen worden war. Aus kaum zwei Metern Entfernung. Er war ihr in die Schussbahn gesprungen, um einem Menschen das Leben zu retten. War ihm gelungen. Nur hätte er seines fast dafür hergegeben. Erst hatte er es locker weggesteckt. Verdrängt. Gedacht, er käme damit durch. Und jetzt? Er war einfach nicht mehr so belastbar.
»Herr Zumbill, stimmt es, dass Ihre Freundin Susanne Warka heißt?«, übernahm Margot das Ruder.
»Ja. So heißt sie«, antwortete Zumbill, aber seine Stimme war kraftlos.
»Wann haben Sie Ihre Freundin zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern. Bevor ich zu dem verdammten Dienst gegangen bin, zu diesem beschissenen Dienst, und das nur, weil Fritz krank war, weil ich gesagt habe, ja, ich übernehme deinen gottverdammten Dienst, weil ich …« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass Cola und Tequila einen Sprung machten.
»Entschuldigen Sie. Gestern. Nachmittags. Gegen siebzehn Uhr. Warum?«
»Und Sie wissen nicht, wo Ihre Freundin jetzt ist? Können Sie sie anrufen?«
»Sie hat ihr Handy vergessen. Liegt im Schlafzimmer. Habe heute früh schon versucht, sie zu erreichen. Da klingelte es in einer Jacke an der Garderobe.«
Margot sah abermals zu Horndeich. Er sagte nichts. Und spürte kaum, dass er ganz leicht den Kopf schüttelte.
»Herr Zumbill, hat Ihre Frau eine Tätowierung?«
Zumbill starrte Margot an. »Was ist mit ihr?«
Margot antwortete nicht sofort, weshalb Zumbill seine Gedanken einfach laut weiterspann.
»Nein. Bitte nicht. Sie sind von der Polizei, von der Mordkommission, richtig, Frau Hesgart? Susanne lebt nicht mehr.« Den letzten Satz hauchte er kaum mehr hörbar.
Margot nahm ihr Smartphone aus der Tasche und zauberte das Bild des Tattoos auf den kleinen Bildschirm. »Herr Zumbill, ist das die Tätowierung Ihrer Frau?«
Er sah hin. Dann nickte er. Goss sich einen weiteren Tequila ein. Kippte ihn weg, nur um Platz zu schaffen für den nächsten. »Ja. Das ist das Tattoo von meiner Verlobten.«
Horndeich hasste diese Szenen. Es war schon schlimm genug, einem Menschen eine Hiobsbotschaft überbringen zu müssen. Aber wenn dieser Mensch dann auch noch im Alkoholnebel umherwatete …
»Was ist passiert?«, frage Zumbill.
Wieder sah Margot Horndeich an. Und der merkte, dass nicht nur er an seine Grenzen stieß. Auch Margot war am Ende. »Sie ist die Frau, die sich gestern vor Ihren Zug geworfen hat«, sagte er mit kalter Stimme. Es war raus. Es war gesagt. Das Unaussprechliche hatte akustisch Gestalt angenommen, war somit zur unabwendbaren Realität geworden. Und die Worte würden jetzt wie Geröll auf Zumbill niedergehen.
Der sah von Horndeich zu Margot und wieder zurück. Dann heulte er auf. Wie ein Wolf in Richtung Mond. Nur lauter. Das Heulen ging nahtlos über in ein gebrülltes, lang gezogenes »Neiiiiiiiin«.
Zumbills Mutter stürmte in den Raum, erkannte, dass offenbar doch niemand abgestochen worden war, ging neben seinem Sessel in die Knie, nahm ihren Sohn in den Arm.
Sophie stand in der Wohnzimmertür. Starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Szene, die sie nicht verstehen konnte.
Margot suchte ihren Blick. Die Kleine ging zögernd auf Margot zu, erklomm die Couch und kroch zu ihr. Margot hielt das kleine Mädchen fest.
Zwei Minuten später schien der erste Sturm vorüber. Zumbills Mutter ließ ihren Sohn los, er hatte sich gefasst.
Schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Menschen auf Todesbotschaften reagierten. Einige zeigten keinerlei Regung, andere schüttelten
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