Engelsblut
Hamburg in der Drogenszene kein Fremder war.«
»Ja. Hast du schon mal erzählt.«
»Ich hab dir auch erzählt, dass ich die Kurve gekriegt hab, nachdem mein bester Kumpel Peter an einer Überdosis gestorben ist.«
Margot erinnerte sich. War schon ein paar Jahre her, dass Horndeich seine kleine Beichte abgelegt hatte. Aber sie hatte es nicht vergessen.
»Aber es gab noch einen zweiten Grund: Madeleine. Wir sind damals immer zu dritt losgezogen, Peter, Madeleine und ich. An dem Abend wollten wir sie zum Zug bringen, sie musste noch nach Poppenbüttel. Wir haben den Weg abgekürzt. Über die Gleise. Und zugedröhnt, wie wir waren – nun, Madeleine hat es nicht geschafft. Sie wurde von der S-Bahn erwischt. Sie sah nicht so schlimm aus wie diese Frau hier. Madeleine sah eher aus wie eine Puppe. Sie ist einfach vom Zug zur Seite geschleudert worden.
Ich hab mir Vorwürfe gemacht. Und zwei Wochen später ist dann auch Peter … Also – das Ganze geht einfach nicht ganz spurlos an mir vorbei.«
»Muss es auch nicht, Kollege, muss es auch nicht.«
Wenigstens da hat Hinrich mal mitgemacht, dachte Horndeich, als er sich die Bilder auf dem Server ansah. Hinrich hatte das Tattoo fotografiert und auch die Kleidungsstücke der Frau. Das zerrissene Kleid hatte er sogar so drapiert, dass man erst auf den zweiten Blick sah, dass es nicht mehr am Stück war. Auch die Unterwäsche hatte er abgelichtet, die Strumpfhose und die Jacke – ebenfalls als zusammengesetztes Puzzle – sowie die Schuhe. Die waren ziemlich extravagant. Sie passten nicht so recht zum Kleid, das sah sogar er, der als Mann immer erstaunt war, wenn Sandra ihre Garderobe komponierte. Er fand alles schick, aber sie konnte sich manchmal vier Paar Schuhe anziehen, bis sie der Meinung war, dass sie nun mit den restlichen Teilen der Montur harmonierten.
Doch dass die schwarzen Laufschuhe mit den orangefarbenen Streifen und Schnürbändern nicht zu dem hellgrünen Kleid passten, das sah sogar Horndeich.
Er klickte die Bilder weg. »Was meinst du – sollen wir uns zur Identifizierung der Toten von den Gleisen an die Presse wenden? Mit dem Tattoo und der Bekleidung?«
Margot sah von ihrem Schreibtisch auf. »Ist ja schon sechs Uhr – ich denke, das kriegen wir jetzt eh nicht mehr rein. Warten wir bis morgen – dann kann die Presseabteilung noch einen netten Text dazu schreiben.«
»Gut. Ich gehe dann jetzt heim.«
»Mach das. Ich bleibe noch ein bisschen.«
Horndeich sagte nichts dazu. Seit Wochen schon verschanzte sich seine Kollegin hinter dem Schreibtisch, während sein eigenes Überstundenkonto gegen null lief. Das Kind forderte seinen Tribut. Seit Margot aus dem Sommerurlaub zurückgekommen war, hatte sie sich verändert. Sie hatte ein paar Bilder gezeigt von ihrer Rundreise durch die Staaten, hatte dabei aber die rechte Begeisterung vermissen lassen. Bei jedem dritten Bild hatte Horndeich ihr die Worte aus der Nase ziehen müssen, um zu erfahren, wo es aufgenommen worden war. Und seitdem hatte er oft den Eindruck, dass sie am liebsten im Büro übernachten würde. Offensichtlich lief es gerade nicht so gut zwischen ihrem Rainer und ihr. Es hatte auch kein einziges Bild gegeben, auf dem die beiden mal Arm in Arm in die Kamera gelacht hätten.
Er wollte gerade aufstehen, da klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Die Zentrale. Er seufzte und nahm ab. »Ja?«
»Hallo, Herr Horndeich. Hier ist eine Dame, die sagt, dass sie eine Vermisstenanzeige aufgeben möchte.«
»Jetzt?«, fragte Horndeich und sah vor seinem geistigen Auge, wie das Abendessen abhob und sich in Luft auflöste.
»Nein, erst übermorgen. Ich wollte Ihnen aber schon mal Bescheid sagen.« Kurze Pause. »Natürlich jetzt!«
»Schicken Sie sie hoch«, sagte Horndeich. »Vermisstenanzeige«, wandte er sich an Margot.
»Geh du ruhig. Ich mach das.«
»Das ist nett von dir, merci«, sagte Horndeich. Er griff zu seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte. Dann hörte er das Reißen.
»Mist!«, fluchte er laut. »Schon das dritte Mal.« Die Seitentasche befand sich, wenn er die Jacke über den Stuhl hängte, genau auf Höhe der zweiten Schublade des kleinen Rollschränkchens, das schräg hinter seinem Stuhl stand. Und wenn Horndeich die Lade nicht ganz schloss, blieb die Tasche hängen. Und riss, wenn man sie ungeschickt anhob.
Horndeich sah sich die Bescherung an. Wieder dreißig Euro für den Änderungsschneider. Sandra konnte viel – aber Nähen war nicht ihr
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