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Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Titel: Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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wäre es nicht sie, die agierte, sondern eine Fremde, durch deren Augen sie blickte. Sie hörte eine gedämpfte Explosion und stürzte zurück in die Realität. Mit zwei Schritten war sie an der Balkontür.
    „Ruf 911 an“, wisperte sie. „Und Mark.“ Sie trat hinaus ins Freie. Die kalte Luft ließ sie frösteln.
    „Bist du verrückt?“ Felipe setzte ihr nach. „Du brichst dir den Hals.“
    „Das ist besser, als wenn sie uns beide erschießen.“
    Sie schlüpfte in die Jacke und zog den Reißverschluss der Tasche zu, in die sie Telefon und Schlüssel gestopft hatte. Mit steifen Fingern umklammerte sie die Balkonbrüstung.
    Gott, ging das tief runter. Doch die Abstände zwischen den Fassadenplatten waren groß genug, um Halt zu bieten. Wie ein Kletterparcours, versicherte sie sich, nicht einmal besonders schwierig. Nur ohne Sicherung. Sie setzte sich auf die Brüstung und tastete nach der ersten Fuge, als die Klingel an Felipes Wohnungstür anschlug.
    Sie wusste nicht, was über ihrem Kopf vorging. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken und konzentrierte sich auf den nächsten Schritt. Mit den Fingern klammerte sie sich in einer Fuge fest und tastete mit dem Fuß nach einem weiteren Halt. Ihr Pulsschlag hämmerte gegen ihre Kehle. Die Vorstellung, sie könnten Felipe etwas antun, verursachte ihr ein Brennen im Magen.
    Aber das würden sie schon nicht. Er war doch nur der Nachbar. Kannte sie flüchtig. Eve Hess? Keine Ahnung, die habe ich heute nachmittag im Fahrstuhl getroffen. Ihm würde etwas einfallen, nicht wahr?
    Eve schluckte die Galle in ihrem Mund hinunter. Sie wusste nicht, ob es so einfach war. Sie hoffte es.
    Etwas löste sich unter ihrem Fuß, sie rutschte. Schweiß brach ihr aus. Dann fand sie Widerstand, eine richtige Auflage, die Brüstung des nächsten Balkons ein Stockwerk tiefer. Sie ließ sich hinunter gleiten, stand einen angstvollen Augenblick frei und sprang schließlich auf den gepflasterten Boden. Die Wohnung hinter der Balkonverglasung lag im Dunkeln, die Schiebetür war verschlossen. Eve klopfte gegen die Scheibe, ohne Erfolg. Sie wollte schreien vor Frustration.
    Dann hörte sie ein Klirren aus Felipes Apartment, wie Porzellan, das auf Steinen zerbricht. Wortfetzen, einen erstickten Schrei. Oder hatte sie sich das eingebildet? Mit der Faust schlug sie gegen das Glas, ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Aber was konnte sie tun? Die waren hinter ihr her, nicht Felipe, und wenn sie sie erwischten, würden sie sie töten. Besser, ihre Beziehung zu Felipe blieb die von Nachbarn, die sich kaum kannten.
    Eve spähte die Wand entlang. Im letzten Fenster der Reihe brannte Licht. Die Geräusche über ihrem Kopf waren verstummt, und sie hoffte, dass das bedeutete, dass die Eindringlinge von Felipe abgelassen hatten. Sie erwog, sich in eine Ecke zu kauern, 911 anzurufen und zu warten, dass die echten Cops auftauchten.
    Dann schnitt eine Stimme in die Stille. „Hier ist ein Balkon!“, rief ein Mann.
    Sie schob sich die Wand entlang zurück zur Brüstung und grub ihre Finger in den Spalt zwischen zwei Platten. Fetzen eines Wortwechsels wehten hinunter. Sie überstieg das Geländer. Ihr Gesicht flach am Beton, löste sie den zweiten Fuß und verließ den sicheren Stand auf der Balustrade.
    Sie kletterte, konzentrierte sich. Die Steinkante unter ihren Zehen vibrierte. Ihre Gedanken schweiften zu der Frage, ob die Fassadenverkleidung auf solche Belastungen ausgelegt war. Was, wenn eine Verankerung brach?
    Über ihr platzte Putz aus der Wand und traf sie an der Stirn. Sie blinzelte, dann lösten sich weitere Steinchen in einer zweiten Eruption dicht neben ihrem Gesicht. Der Staub reizte sie zum Husten. Sie starrte auf den Krater, handtellergroß und mit schartigen Rändern.
    Erst verzögert begriff sie, dass jemand auf sie schoss. Jemand, der eine Waffe mit Schalldämpfer benutzte. Hitze überflutete ihre Glieder. Weiterklettern. Nicht nachdenken.
    Sie biss die Zähne aufeinander und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.
    Weiter. Methodisch, nicht zu hastig.
    Sie streckte einen Arm aus und tastete nach dem nächsten Halt. Zog ein Bein nach, dann den ganzen Oberkörper. Steinbrocken spritzten zur Seite, wo zuvor ihre Hand gelegen hatte. Sie zuckte zusammen, strauchelte aber nicht. Eine Serie von Eruptionen perforierte die Wand. Gespenstisch, flüsterleise. Ein Riss sprang in der Platte auf, etwas traf sie an der Wange.
    Ihre Finger zitterten nun so heftig, dass sie sie kaum aus der Fuge zu

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