Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
dachte, dass er vielleicht etwas hinter dem Rücken verbarg – vielleicht eines der Geräte zum Fallenstellen, denen sich seine Art bediente –, aber der Engel drehte sich einfach um und entblößte die Narbe in seinem Nacken. Das siebenzackige goldene Zeichen der Waage. »Ich gehöre zur Waage.« Er hatte eine tiefe, raue Stimme. »Ich möchte mit dir sprechen.«
Daniel knirschte mit den Zähnen. Die Waage musste gewusst haben, dass er für ihre Mitglieder und ihre lästigen Pflichten keinerlei Achtung hegte. Aber es spielte keine Rolle, wie sehr er ihr Gehabe verabscheute und dass sie stets versuchten, die gefallenen Engel auf eine Seite zu drängen: Er musste trotzdem ihren Bitten nachkommen. Irgendetwas schien seltsam an diesem Engel, aber wer außer einem Mitglied der Waage hätte einen Weg in seinen Verkünder finden können?
»Ich habe es eilig.«
Der Engel nickte, als wisse er das bereits. »Du suchst nach Lucinda?«
»Ja«, platzte Daniel heraus. »Ich – ich brauche keine Hilfe.«
»Oh doch.« Der Engel nickte. »Du hast deinen Ausgang verpasst.« Er zeigte nach unten, auf die Stelle in dem vertikalen Tunnel, aus dem Daniel gerade gekommen war. »Gleich dort drüben.«
»Nein …«
»Doch.« Der Engel lächelte und zeigte eine Reihe winziger, spitzer Zähne. »Wir warten und beobachten. Wir sehen, wer durch Verkünder reist und wohin er geht.«
»Ich wusste gar nicht, dass es in die Zuständigkeit der Waage fällt, die Verkünder zu überwachen.«
»Es gibt vieles, was du nicht weißt. Unser Monitor hat festgestellt, dass sie hindurchgeschritten ist. Sie wird jetzt schon ein gutes Stück weit gereist sein. Du musst ihr folgen.«
Daniel versteifte sich. Die Engel der Waage waren die Einzigen, denen Einblick in das Geschehen zwischen zwei Verkündern gewährt war. Es war möglich, dass ein Mitglied der Waage Luce gesehen hatte.
»Warum solltest du mir helfen, sie zu finden?«
»Oh, Daniel.« Der Engel runzelte die Stirn. »Lucinda ist ein Teil deines Schicksals. Wir wollen, dass du sie findest. Wir wollen, dass du deiner Natur treu bleibst …«
»Und dass ich mich dann auf die Seite des Himmels schlage«, knurrte Daniel.
»Eins nach dem anderen.« Der Engel legte die Flügel an und ließ sich in den Tunnel fallen. »Wenn du sie einholen willst«, dröhnte seine tiefe Stimme, »bin ich hier, um dir den Weg zu zeigen. Ich weiß, wo die Verbindungspunkte sind. Ich kann ein Portal zwischen dem Gewebe früherer Zeiten öffnen.« Dann fügte er schwach hinzu: »Ohne Bedingungen.«
Daniel war ratlos. Seit dem Krieg im Himmel war ihm die Waage ein Ärgernis gewesen, aber zumindest waren ihre Motive durchschaubar. Sie wollte, dass er sich auf die Seite des Himmels schlug. Das war es. Er schätzte, dass es ihre Pflicht war, ihn zu Luce zu führen, wenn sie es konnte.
Vielleicht hatte der Engel recht. Immer eins nach dem anderen. Alles, was ihn interessierte, war Luce.
Er legte die Flügel an und spürte, wie sein Körper durch die Dunkelheit schoss. Als er den Engel eingeholt hatte, verharrte er.
Der Engel zeigte auf eine Stelle. »Dort ist Lucinda ausgestiegen.«
Der Schattenweg war schmal und bog scharf von dem Pfad ab, den Daniel eingeschlagen hatte. Es sah nicht besser oder schlechter aus als Daniels alte Richtung.
»Wenn es funktioniert«, sagte er, »werde ich in deiner Schuld stehen. Wenn nicht, werde ich hinter dir her sein.«
Der Engel schwieg.
Also folgte Daniel dem Prinzip: erst handeln, dann denken, und spürte einen feuchten Windhauch über seine Flügel streichen, einen Luftstrom, der wieder stärker wurde und ihn mitriss, und er hörte – irgendwo weit hinter sich – ganz schwach ein schallendes Gelächter.
Neunzehn
Die sterbliche Hülle
M EMPHIS , Ä GYPTEN , P ERET – »D IE J AHRESZEIT DER A USSAAT « (Herbst, ungefähr 3100 vor unserer Zeitrechnung)
»Du da«, brüllte jemand, als Luce über die Schwelle des Verkünders trat. »Ich hätte gern meinen Wein. Auf einem Tablett. Und bring meine Hunde herein. Nein – meine Löwen. Nein – alle.«
Sie trat in einen gewaltigen weißen Raum mit Alabasterwänden und dicken Säulen, die eine hohe Decke trugen. Ein schwacher Duft nach gebratenem Fleisch lag in der Luft.
Der Raum war leer bis auf ein hohes Podest am anderen Ende, das mit Antilopenfellen bezogen worden war. Darauf stand ein gewaltiger, aus Marmor gehauener Thron, der mit dicken smaragdgrünen Kissen gepolstert und an der Rückseite mit dekorativ verschränkten
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