Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
in die kleine Stadt, in der er einen Sommer mit Lucinda verbracht hatte.
Dass er nun wieder auf dieser fruchtbaren grünen Erde stand, brachte eine weiche Saite in ihm zum Klingen. So sehr er sich bemühte, jede Tür zu ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu schließen, so sehr er danach trachtete, nach jedem einzelnen ihrer herzzerreißenden Tode weiterzumachen – einige zählten mehr als andere. Es überraschte ihn, wie deutlich er sich noch immer an ihre Zeit im Süden Englands erinnern konnte.
Aber Daniel war hier nicht im Urlaub. Er war hier, um sich in die schöne Tochter des Kupferhändlers zu verlieben. Er war hier, um ein verwegenes Mädchen daran zu hindern, sich in den dunklen Augenblicken seiner Vergangenheit zu verlieren, die es tötete. Er war hier, um Luce zu helfen, ihrer beider Fluch zu brechen, ein und für alle Mal.
Er trat den langen Weg in Richtung Stadt an.
Es war ein warmer, träger Sommerabend in Helston. Auf den Straßen sprachen Damen in Häubchen und spitzengesäumten Gewändern mit leiser, höflicher Stimme mit den in Leinenanzüge gekleideten Männern, deren Arme sie hielten. Paare blieben vor Schaufenstern stehen. Sie verweilten, um mit ihren Nachbarn zu reden. Sie blieben an Straßenecken stehen und nahmen sich zehn Minuten Zeit, um Auf Wiedersehen zu sagen.
Alles an diesen Leuten, angefangen von ihrem Aufzug bis hin zu dem Tempo, mit dem sie durch die Straßen schlenderten, atmete auf aufreizende Weise Langsamkeit. Daniel hätte sich den Passanten auf der Straße nicht ferner fühlen können. Seine unter seinem Mantel versteckten Flügel brannten von seiner Ungeduld, während er durch das Städtchen ging. Es gab einen Ort, von dem er wusste, dass er Lucinda dort mit Sicherheit finden konnte – sie besuchte an den meisten Abenden kurz nach Einsetzen der Dämmerung den Pavillon im Garten seines Gönners. Aber wo er Luce finden würde – die Luce, die in Verkünder hinein- und wieder heraushüpfte, die, die er finden musste –, das konnte er unmöglich feststellen.
Die beiden anderen Leben, in die Luce hineingestolpert war, ergaben für Daniel einen gewissen Sinn. Im großen Plan der Dinge waren sie … Anomalien. Vergangene Augenblicke, da sie nahe daran gewesen war, die Wahrheit über ihren Fluch aufzudecken, kurz bevor sie den Tod gefunden hatte. Aber er kam nicht dahinter, warum ihr Verkünder sie hierher gebracht hatte.
Helston war eine ungeheuer friedliche Zeit für sie gewesen. In diesem Leben war ihre Liebe langsam und natürlich gewachsen. Selbst ihr Tod war privat gewesen, etwas, das sich nur zwischen ihnen beiden ereignet hatte. Gabbe hatte einmal das Wort respektabel benutzt, um Lucindas Ende in Helston zu beschreiben. Diesen Tod zumindest hatten sie ganz allein erlitten.
Nein, an dem Zufall, dass sie dieses Leben noch einmal besuchte, ergab nichts einen Sinn – was bedeutete, dass sie überall in dem Weiler sein konnte.
»Mr Grigori«, rief eine trällernde Stimme auf der Straße. »Was für eine wunderbare Überraschung, Sie hier in der Stadt anzutreffen.«
Eine blonde Frau in einem langen blau gemusterten Kleid stand vor Daniel. Sie hielt die Hand eines pummeligen, sommersprossigen Achtjährigen, der in einer cremefarbenen Jacke mit einem Fleck unter dem Kragen elend aussah.
Zunächst war Daniel total perplex. Doch dann dämmerte es ihm: Mrs Holcombe und ihr gänzlich untalentierter Sohn Edward, dem er während seiner Zeit in Helston einige qualvolle Wochen lang Zeichenunterricht erteilt hatte.
»Hallo, Edward.« Daniel beugte sich vor, um dem kleinen Jungen die Hand zu schütteln, dann verneigte er sich vor dessen Mutter. »Mrs Holcombe.«
Bis zu diesem Moment hatte Daniel kaum über seine Garderobe nachgedacht, während er sich durch die Zeit bewegte. Es kümmerte ihn nicht, was irgendjemand auf der Straße von seinen modernen grauen Baumwollhosen hielt oder ob der Schnitt seines weißen Oxford-Hemdes seltsam aussah, verglichen mit den Hemden der anderen Männer in der Stadt. Aber wenn er Leuten über den Weg lief, die ihn vor fast zweihundert Jahren gekannt hatten, während er die Kleider trug, die er vor zwei Tagen zum Thanksgiving-Fest von Luce’ Eltern getragen hatte, könnte sich das herumsprechen.
Daniel wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Nichts durfte seiner Suche nach Luce im Wege stehen. Er würde einfach andere Kleidung finden müssen. Nicht dass die Ho lcombes etwas bemerkt hätten. Glücklicherweise war Daniel in eine Zeit zurückgekehrt, die
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