Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
gesehen, geschweige denn getragen hatte.
»Oooh!«, kreischte Bill. »Sehr Rokoko.«
»Ich mache das also wirklich? Ich gehe einfach da runter und tue so, als ob …«
»Du tust überhaupt nicht, als ob.« Bill schüttelte den Kopf. »Sei stolz auf das, was du hast. Sei stolz auf dieses Dekolleté, Mädchen, du weißt genau, dass du es willst.«
»Okay, ich tu jetzt mal so, als hättest du das nicht gesagt.« Luce lachte und wand sich innerlich. »Ich gehe also nach unten und ›bin stolz auf das, was ich habe‹, oder was auch immer. Aber was mache ich, wenn ich auf mein früheres Ich stoße? Ich weiß überhaupt nichts von ihr. Soll ich einfach …«
»Nimm ihre Hand«, meinte Bill geheimnisvoll. »Sie wird bestimmt sehr berührt von dieser Geste sein.«
Bill deutete irgendetwas an, so viel stand fest, aber Luce wurde daraus nicht klug. Dann erinnerte sie sich an seine Worte, unmittelbar bevor sie durch den letzten Verkünder gesprungen waren.
»Erzähl mir mehr über diese 3D-Geschichte.«
»Aha.« Bill machte eine Pantomime, so als lehne er sich gegen eine unsichtbare Wand. Seine Flügel verschwammen, als er vor ihr flatterte. »Du weißt, dass einige Dinge einfach zu fantastisch sind, um sie in langweilige alte Wörter zu fassen? Zum Beispiel die Art, wie dir ganz anders wird, wenn Daniel dir einen langen Kuss gibt, oder das Gefühl der Wärme, das sich in deinem Körper ausbreitet, wenn seine Flügel sich in einer dunklen Nacht entfalten …«
»Nicht.« Luce griff sich unwillkürlich ans Herz. Die Gefühle, die Daniel in ihr auslöste, waren mit Worten nicht zu beschreiben. Bill verspottete sie, aber das hieß nicht, dass ihr Trennungsschmerz von Daniel nachließ.
»Genauso ist es mit 3D. Du wirst es einfach erleben müssen, um es zu verstehen.«
Sobald Bill Luce die Tür aufhielt, drangen die fernen Klänge von Orchestermusik und das höfliche Gemurmel einer großen Menschenmenge in den Raum. Sie spürte, dass sie etwas dort hinunterzog. Vielleicht war es Daniel. Vielleicht war es Lys.
Bill verneigte sich in der Luft. »Nach Euch, Prinzessin.«
Sie folgte dem Lärm zwei breite, geschwungene goldene Treppen hinunter und die Musik wurde mit jedem Schritt lauter. Während sie durch eine leere Galerie nach der anderen glitt, stiegen ihr die köstlichen Aromen von gebratenen Wachteln, Bratäpfeln und Kartoffelgratin in die Nase. Und Parfüm – so viel, dass sie kaum atmen konnte, ohne zu husten.
»Na, bist du nicht froh darüber, dass ich dich ein Bad nehmen ließ?«, fragte Bill. »Eine Flasche Eau de Stinkette weniger, die Löcher in l’ozone reißt.«
Luce antwortete nicht. Sie war in einen langen Spiegelsaal gelangt. Vor ihr gingen zwei Frauen und ein Mann auf den Eingang zu einem Hauptraum zu. Das heißt, die Frauen gingen nicht, sie schwebten. Ihre gelben und blauen Gewänder rauschten geradezu über den Boden. Der Mann, der zwischen ihnen ging, trug ein modisches weißes Rüschenhemd unter seiner langen silbernen Jacke, und seine Absätze waren fast so hoch wie die an Luce’ Schuhen. Ihre drei Perücken überragten die Perücke von Luce, die sich schon riesig anfühlte und eine Tonne wog, um einen vollen Kopf. Verglichen mit den dreien kam Luce sich mit ihren beim Gehen hin und her schwingenden Röcken unbeholfen vor.
Als die zwei Frauen und der Mann sich umdrehten, um zu sehen, wer hinter ihnen ging, verengten sich alle drei Augenpaare, so als wüssten sie sofort, dass Luce nicht dazu erzogen worden war, Bälle der feinen Gesellschaft zu besuchen.
»Beachte sie nicht«, riet Bill ihr. »Es gibt in jedem Leben Snobs. Letztendlich können sie dir nicht das Wasser reichen.«
Luce nickte und ließ sich ein Stück hinter das Trio fallen, das durch zwei verspiegelte Türen in den Ballsaal trat. Den ultimativen Ballsaal. Den unglaublichsten Ballsaal aller Zeiten.
Luce konnte nicht anders. Sie blieb wie angewurzelt stehen und flüsterte: »Wow.«
Der Raum war majestätisch: Ein Dutzend Kronleuchter hing tief unter der hohen Decke und glitzerte von hellen weißen Kerzen. Wo die Wände nicht verspiegelt waren, waren sie mit Gold bedeckt. Der Tanzboden aus Parkett schien sich bis in die nächste Stadt zu erstrecken. Er war von langen weiß eingedeckten Tischen umgeben, und darauf standen Porzellangedecke, Teller mit Kuchen und Gebäck und große, mit rubinrotem Wein gefüllte Kristallkelche. Tausende weißer Narzissen steckten in Hunderten von dunkelroten Vasen, die auf Dutzenden von Esstischen
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