Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
Hilfe zu haben. Sie brauchte einige Minuten, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie wirklich – dass sie wirklich …
»Ich bin in meinem früheren Ich«, sagte sie.
»Ja.«
»Wo bin ich dann geblieben? Wo ist mein Körper?«
»Du steckst irgendwo da drin.« Er tippte ihr auf das Schlüsselbein. »Du wirst wieder heraushüpfen, wenn … nun, im richtigen Moment. Aber jetzt bist du erst mal ganz in dein früheres Ich geschlüpft. Wie eine niedliche kleine Schildkröte in einem geborgten Panzer. Nur dass es mehr ist als das. Wenn du in Lys’ Körper bist, sind eure beiden Wesen miteinander vereint, und das bedeutet, du besitzt auch ihre Erinnerungen, ihre Leidenschaften, ihre Manieren – ein Glück für dich. Natürlich musst du dich auch mit ihren Fehlern herumschlagen. Wenn ich mich recht entsinne, tritt sie oft ins Fettnäpfchen. Also sieh dich vor.«
»Unglaublich«, flüsterte Luce. »Wenn ich also Daniel finden könnte, würde ich genau das für ihn empfinden, was sie für ihn empfindet.«
»Ja, ich schätze schon. Aber dir ist doch klar, dass Lys auf diesem Ball Verpflichtungen hat, die Daniel nicht betreffen. Dies ist nicht seine Bühne, und damit meine ich, dass die Wachen unter keinen Umständen einen armen Stallburschen hier hereinlassen würden.«
Luce war das alles egal. Armer Stallbursche oder nicht, sie würde ihn finden. Sie konnte es nicht erwarten. In Lys’ Körper konnte sie ihn sogar in die Arme nehmen, ihn vielleicht sogar küssen. Die Vorfreude war beinahe überwältigend.
»Hallo?« Bill tippte ihr mit dem Finger fest gegen die Schläfe. »Bist du so weit? Geh da rein, schau dir alles an, und dann hau ab, solange du noch kannst, wenn du weißt, was ich meine.«
Luce nickte. Sie strich Lys’ schwarzes Gewand glatt und hielt den Kopf ein bisschen höher. »Ich bin bereit.«
»Und … los. « Bill schnippte mit den Fingern.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Party wie eine zerkratzte Schallplatte zu hängen. Dann setzte jede Silbe mitten im Gespräch, jeder Hauch von Parfum in der Luft, jeder Tropfen Punsch, der durch juwelengeschmückte Kehlen rann, jeder Ton von jedem Musiker im Orchester wieder ein und wurde fortgeführt, als sei überhaupt nichts geschehen.
Nur Luce hatte sich verändert. Tausend Worte und Bilder stürmten in ihrem Kopf auf sie ein. Ein weitläufiges, strohgedecktes Landhaus in den Ausläufern der Alpen. Ein fuchsfarbenes Pferd namens Gauche. Überall der Geruch von Stroh. Eine langstielige weiße Pfingstrose quer über ihrem Kissen. Und Daniel. Daniel. Daniel. Er kam vom Brunnen zurück und balancierte vier schwere Wassereimer an einer Stange auf seinen Schultern. Jeden Morgen striegelte er gleich als Erstes Gauche, damit Lys mit ihm ausreiten konnte. Wenn es um kleine Liebesdienste für Lys ging, gab es nichts, was Daniel übersah, auch nicht, wenn er Arbeiten für ihren Vater zu verrichten hatte. Seine violetten Augen fanden sie immer. Daniel in ihren Träumen, in ihrem Herzen, in ihren Armen. Es war wie die aufblitzende Erinnerung Luschkas in Moskau, als sie das Kirchentor berührt hatte – aber stärker, überwältigender, ein wesenhafter Teil von ihr.
Daniel war hier. In den Ställen oder in den Quartieren der Dienstboten. Er war hier. Und sie würde ihn finden.
Etwas raschelte an Luce’ Hals. Sie zuckte zusammen.
»Ich bin’s nur.« Bill huschte über das Schultercape. »Du machst das großartig.«
Die riesigen goldenen Türen an der Stirnseite des Raumes wurden von zwei Lakaien geöffnet, die links und rechts davon strammstanden. Die Mädchen vor Luce in der Schlange begannen vor Aufregung zu kichern, dann legte sich Stille über den Raum. In der Zwischenzeit suchte Luce nach dem schnellsten Weg hinaus aus dem Ballsaal und hinein in Daniels Arme.
»Bleib bei der Sache, Luce«, befahl Bill, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Du wirst gleich zur Pflicht gerufen.«
Die Streicher des Orchesters stimmten die barocken Eröffnungsakkorde des Ballet de Jeunesse an und der ganze Raum richtete seine Aufmerksamkeit auf ein neues Ziel. Luce folgte den Blicken der anderen und schnappte nach Luft: Sie erkannte den Mann, der dort in der Tür stand und mit einer Klappe über einem Auge das Fest betrachtete.
Es war der Duc de Bourbon, der Cousin des Königs.
Er war groß und mager, so verwelkt wie eine Bohnenpflanze bei Dürre. Sein schlecht sitzender blauer Samtanzug war mit einer malvenfarbenen Schärpe geschmückt, die zu den
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