Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
malvenfarbenen Strümpfen an seinen spindeldürren Beinen passte. Seine pompöse gepuderte Perücke und sein milchigweißes Gesicht waren beide außerordentlich hässlich.
Sie erkannte den Herzog nicht von einer Abbildung in einem Geschichtsbuch. Sie wusste viel zu viel über ihn. Sie wusste alles. Zum Beispiel, dass die königlichen Hofdamen derbe Witze über die traurige Größe des Zepters des Herz ogs rissen. Sie wusste, wie er sein Auge verloren hatte (U nfall bei einem Jagdausflug, an dem er teilgenommen hatte, um den König zu besänftigen). Und sie wusste, dass der Herzog in diesem Moment die Mädchen hineinschicken würde, die er zuvor als geeignete Heiratskandidatinnen für den zwölfjährigen König ausgewählt hatte, der drinnen wartete.
Und Luce – nein, Lys – war eine Favoritin des Herzogs. Das war der Grund für das quälende Gefühl in ihrer Brust: Lys konnte den König nicht heiraten, weil sie Daniel liebte. Sie liebte ihn schon seit Jahren leidenschaftlich. Aber in diesem Leben war Daniel ein Dienstbote, und sie waren gezwungen, ihre Liebe zu verbergen. Luce spürte Lys’ lähmende Angst – wenn der König heute Abend an ihr Gefallen fand, wäre jede Hoffnung auf ein Leben mit Daniel verloren.
Bill hatte sie davor gewarnt, dass 3D intensiv sein würde, aber Luce hätte sich unmöglich gegen diesen Ansturm von Gefühlen wappnen können: Alle Ängste und Zweifel, die Lys je erlebt hatte, übermannten Luce. Alle Hoffnungen und Träume. Es war zu viel.
Sie atmete laut aus und sah sich im Ballsaal um – schaute überallhin, nur nicht zu dem Herzog. Ihr wurde klar, dass sie alles wusste, was es über diese Zeit und diesen Ort zu wissen gab. Sie verstand plötzlich, warum der König nach einer Frau suchte, obwohl er bereits verlobt war. Sie erkannte die Hälfte der Gäste, die sich um sie herum im Ballsaal bewegten, kannte ihre Geschichten und wusste, wer sie beneidete. Sie wusste, wie man in dem geschnürten Gewand stehen musste, um bequem atmen zu können. Und dem geübten Blick nach zu schließen, mit dem sie die Tänzer betrachtete, wusste Luce, dass Lys von Kindesbeinen an in der Kunst der Gesellschaftstänze unterrichtet worden war.
Es war ein unheimliches Gefühl, in Lys’ Körper zu stecken, als sei Luce der Geist und gleichzeitig diejenige, bei der er spukte.
Das Orchester beendete das Lied, und ein Mann neben der Tür trat vor, um von einer Schriftrolle abzulesen. »Prinzessin Lys von Savoyen.«
Luce hob den Kopf mit mehr Eleganz und Selbstbewusstsein, als sie erwartet hatte, und nahm die Hand des ju ngen Mannes in der hellgrünen Weste, der erschienen war, um sie in das Empfangszimmer des Königs zu geleiten.
Sobald sie sich in dem gänzlich pastellblauen Raum befand, versuchte Luce, den König nicht anzustarren. Seine turmhohe graue Perücke sah über seinem kleinen, ausgezehrten Gesicht albern aus. Mit seinen hellblauen Augen blickte er lüstern die Reihe von Herzoginnen und Prinzessinnen entlang – alle schön, alle edel gekleidet –, so wie ein ausgehungerter Mann vielleicht nach einem Spanferkel gieren würde.
Die pickelige Gestalt auf dem Thron war kaum mehr als ein Kind.
Ludwig XV . hatte die Krone übernommen, als er erst fünf Jahre alt gewesen war. Den Wünschen seines Vaters auf dem Sterbebett entsprechend, war er mit der spanischen Prinzessin verlobt worden, der Infantin. Aber sie war immer no ch ein kleines Kind. Diese Verbindung wurde in der Höl le g eschlossen. Von dem jungen zarten und kränklichen König erwartete man nicht, dass er lange genug lebte, um mit der spanischen Prinzessin einen Erben zu zeugen, die ihrers eits ebenfalls sterben könnte, bevor sie das gebärfähige Alte r erreichte. Also musste der König eine Gemahlin find en, die einen Erben hervorbringen konnte. Was dieses extr avagante Fest erklärte und die zur Schau gestellten Damen.
Luce fingerte an der Spitze ihres Kleides herum und kam sich lächerlich vor. Die anderen Mädchen wirkten alle so geduldig. Vielleicht wollten sie wirklich den von Akne geplagten zwölfjährigen König Ludwig heiraten, obwohl Luce nicht verstand, wie das möglich sein sollte. Sie waren alle so elegant und schön. Von der russischen Prinzessin, Elizabeth, deren saphirblaues Samtgewand einen pelzbesetzten Kragen hatte, bis hin zu Maria, der Prinzessin aus Polen, deren winzige Stupsnase und voller roter Mund sie auf eine verwirrende Weise reizvoll machten, sahen alle Mädchen den Knabenkönig mit großen,
Weitere Kostenlose Bücher