Engelsfluch
Mutter stammte aus diesem Dorf, nicht wahr?«
Enrico nickte und erzählte, wie Bürgermeister Cavara ihn und Elena Vida angelogen hatte, um anschließend schnurstracks zum Pfarrer zu laufen.
»Ich verstehe, dass Sie da einen Zusammenhang vermuten.
Aber was, das in irgendeiner Verbindung zur Familie Ihrer Mutter steht, kann so schwerwiegend sein, einen Mord zu rechtfertigen?«
»Das, Heiligkeit, ist eine Frage, die ich mir seit ein paar Tagen auch stelle, leider ohne eine Antwort gefunden zu haben.«
»Erzählen Sie mir doch weiter von Ihren Erlebnissen!«, bat Custos.
Als Enrico von dem Einsiedler sprach, wurde der Papst hellhörig und stellte öfters Zwischenfragen. Custos wollte ganz genau wissen, was sich bei Elenas so genannter Wunderheilung ereignet hatte, was in dem Krankenzimmer gesprochen worden war und was Enrico gefühlt hatte.
Enrico beschrieb das leichte Kribbeln, das von seinen Fingerspitzen auf seine Hände und dann auf seinen ganzen Körper ausgestrahlt hatte. »Ich fühlte mich wie von einer Welle warmen Wassers erfasst, die mich sanft umspülte. Es war ein Gefühl des Aufgehobenseins, der Geborgenheit, wie ich es nur aus meiner frühen Kindheit kenne.«
»Viele, die über die Gabe verfügen, haben ähnliche Erfahrungen gemacht wie Sie«, sagte Custos zu Enricos Verwunderung. »Bei jedem ist die Fähigkeit unterschiedlich ausgeprägt, und jeder hat auch leicht unterschiedliche Empfindungen dabei. Aber diese Wärme, die Geborgenheit, von der Sie sprachen, wird von fast allen bestätigt.«
»Ich verstehe Sie nicht, Heiliger Vater.«
»Oh, ich glaube doch. Wahrscheinlich wollen Sie mich nicht verstehen, weil etwas in Ihnen sich vor dem Unbekannten fürchtet. Aber der Einsiedler, Angelo, hat es Ihnen schon gesagt: Auch Sie haben die Fähigkeit, andere Menschen zu heilen.
Angelo hat es verstanden, seine eigenen Kräfte mit den Ihren zu kombinieren, und mit vereinter Macht haben Sie Elena dem Tod entrissen.«
Enrico musste sich eingestehen, dass Custos Recht hatte. Er wollte sich nicht dem stellen, was so unglaublich klang und was doch nicht zu leugnen war. Wenn er seine besondere Fähigkeit akzeptierte, musste er auch die nächsten Schritte tun und sich die Fragen stellen, was die seltsamen Flecke auf seiner Hand und was der Geflügelte aus seinen Träumen bedeuteten. Er fühlte sich von einer Sekunde zur nächsten unwohl, und trotz der warmen Mittagssonne, die auf die Dachterrasse schien, fror er. So sehr, dass er am ganzen Körper zu zittern begann. Custos trat auf ihn zu und umschlang ihn mit seinem Arm, wie um körperliche Wärme an Enrico abzugeben. Tatsächlich fror Enrico nicht länger, und dafür verantwortlich war eine innere Wärme, als hätte jemand tief in ihm ein Feuer entfacht. Es war eine wohltuende Wärme, die ihn gleichmäßig ausfüllte und ihm jenes Gefühl der Geborgenheit schenkte, wie er es auch bei Elenas Heilung verspürt hatte. Unwillkürlich schloss Enrico die Augen und sah sich als kleines Kind, wie er mit seinen Eltern über eine blumengeschmückte Wiese lief. Der Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte, hob ihn hoch, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. Enricos Mutter stand daneben und lachte. Und er wünschte sich, dieser kurze Augenblick seliger Erinnerung würde niemals enden. Aber das wohlige Gefühl ebbte ab, und er öffnete die Augen. Papst Custos stand neben ihm und sah ihn forschend an. »Wie fühlen Sie sich?«
»Etwas wacklig auf den Beinen, aber sonst sehr gut.«
Custos zeigte auf eine kleine weiße Bank, die am Fischbrunnen stand. »Setzen wir uns doch!«
Als sie nebeneinander Platz genommen hatten, bat Custos Enrico zu beschreiben, was er eben gefühlt hatte.
»Es war eine ähnliche Wärme und Geborgenheit wie in Elenas Krankenzimmer, als Angelo und ich ihr die Hände auflegten.«
»Das dachte ich mir«, sagte Custos und fügte nach einem langen Blick auf seinen Gast hinzu: »Enrico, Sie sind einer von uns.«
»Von wem?«
»Was wissen Sie von den Auserwählten? «
»Das sind die Menschen, die von sich behaupten, die Nachfahren von Jesus zu sein. So wie …« Enrico verstummte, als ihm bewusst wurde, was er gerade sagen wollte. »So wie ich, sagen Sie es nur! Sie müssen sich nicht schämen, wenn der Gedanke Ihnen fremd erscheint. Viele Menschen, auch und gerade unter den Gläubigen, haben ein Problem mit der Vorstellung, dass unser Erlöser nicht für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist. Ein Jesus, der aus dem Scheintod
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