Engelsfluch
seiner Großtante, von ihrer Panikattacke und von dem Schuhkarton voller Zeitungsausschnitte.
»Vielleicht ist es doch ein Hinweis«, sagte der Papst und wirkte betroffen. »Können Sie sich an die genauen Worte Ihrer Großtante erinnern?«
Enrico sah sich wieder in dem düsteren Haus stehen, roch die abgestandene Luft und hörte Rosalia Baldanello sagen: Dein Vater ist ein besonderer Mann, aber er bat die falsche Wahl getroffen. Er hat sich für Satan entschieden. »Ein besonderer Mann, der sich für Satan entschieden hat«, wiederholte Custos leise. »Was hat sie gemeint? Hat Ihr Vater eine große Sünde begangen?« Er blickte Enrico forschend an. »Mag sein, dass meine Frage Ihnen ungewöhnlich vorkommt, aber haben Sie jemals eine Begegnung mit Satan gehabt?«
»Letzte Nacht erst und in vielen Nächten davor.« Enrico fühlte Custos gegenüber keine Scheu, über seinen Alptraum zu sprechen. Er spürte, dass der Papst es ehrlich mit ihm meinte und dass er hier oben auf dem Dach des Apostolischen Palastes der Wahrheit näher war als jemals zuvor. Also berichtete er von seinen Träumen, von dem unterirdischen Labyrinth und dem See, von der lockenden Stimme und von dem Geflügelten mit dem sanften Antlitz, der sich übergangslos in einen Schrecken einflößenden Dämon verwandelte. »In Satan?«, fragte Enrico.
Die Betroffenheit im Gesichtsausdruck des Papstes war stärker geworden, enthielt einen Anflug von Furcht. »Ich weiß es nicht«, sagte er langsam. »Ich muss darüber nachdenken. Aber ich würde an Ihrer Stelle nicht den Kopf verlieren. Wenn eine dunkle Macht in Ihnen ist, so hat sie doch einen hellen Widerpart.«
»Die Gestalt mit den Engelsflügeln?«
»Ja, vielleicht ist es ein Engel.«
»Sie glauben an Engel, Heiligkeit?«
»Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Enrico unsicher. »Ich habe mal irgendwo gelesen, dass die katholische Kirche Engel nicht offiziell anerkennt.«
»Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Da Engel in der Heiligen Schrift erwähnt werden, können selbst jene Theologen, die nicht viel von ihnen halten, sie nicht rundweg leugnen. Streit besteht allerdings hinsichtlich der Natur der Engel, über die eine breite Palette von Meinungen existiert.
Auf der einen Seite der Skala steht der Glaube an Engel als körperliche Wesen, auf der anderen Seite die Auffassung, Berichte über Engelserscheinungen seien symbolhaft zu verstehen. Der Engel sei nur ein Sinnbild für die göttliche Inspiration. Das Wort Engel kommt übrigens vom griechischen angelos, das eine Übersetzung des hebräischen Wortes malach ist. Das wiederum heißt nichts anderes als Bote. Und so streiten sich die Gelehrten, ob Gottes Boten greifbare Wesen sind oder nur Sinnbilder für das Übertragen der Botschaft. Die katholische Kirche hat in der Tat die Bedeutung der Engel stark zurückgeschraubt. Nicht zuletzt deshalb, weil viele Engelserscheinungen und Engelsverehrungen nicht in der christlichen Lehre gründen, sondern dem Volksglauben entsprungen sind, um das Wort Aberglauben zu vermeiden.
Überspitzt gesagt, sollte nicht jedes unerklärliche Licht für einen göttlichen Gesandten oder ein UFO gehalten werden.«
»Und was glauben Sie, Heiligkeit?«
»Als Papst halte ich mich mit solchen Einschätzungen sehr zurück. Als denkender und forschender Katholik muss ich zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Engel keine Erfindungen der Heiligen Schrift beziehungsweise des christlichen Glaubens sind. In allen Kulturen und zu allen Zeiten gab es den Glauben an Engel, mochten die auch anders geheißen haben. Der Glaube an das Übernatürliche, an die Nähe und die Verbindung zu Gott ist auch jenseits der christlichen Lehre in den Menschen tief verwurzelt.«
Enrico dachte an die engelsähnlichen Darstellungen der Etrusker, die ihm im Licht von Custos’ Worten nicht mehr ganz so verwunderlich erschienen.
»Entwerten Sie damit nicht Ihren eigenen Glauben, Heiligkeit?«, fragte er weiter. »Wenn es die Engel schon vorher gab, können sie doch kaum Gottes Boten sein.«
»Wieso nicht? Man kann natürlich annehmen, dass der Glaube an Engel nur deshalb überall anzutreffen ist, weil er ein Grundbedürfnis der menschlichen Psyche erfüllt, nämlich die Bestätigung, nicht ohne den Beistand und Schutz einer höheren Macht auf dieser Welt zu sein. Aber das ist nur eine mögliche Deutung des weit verbreiteten Engelsglaubens. Eine andere ist die, dass diesem Glauben eine tiefere Wahrheit zugrunde
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