Engelsfluch
vergangenen Nacht habe ich mehrmals an einen Rücktritt gedacht.«
Luu blickte ihn erschrocken an. »So etwas dürfen Sie nicht sagen, nicht einmal denken, Heiliger Vater! In den wenigen Monaten Ihrer Amtszeit haben Sie schon so viel bewegt. Wenn Sie aufgeben, wird all das, was Sie bis jetzt erreicht haben, umsonst gewesen sein. Alle Opfer waren dann vergebens. Wer weiß, wann die Kirche wieder das Glück hat, einen Mann von Ihrem Format an ihrer Spitze zu haben. Vielleicht niemals.«
Custos machte eine beschwichtigende Handbewegung.
»Machen Sie mich nicht größer, als ich bin, Don Luu! Aber was das Ende der Reformen und die vergeblichen Opfer betrifft, all das habe ich mir auch gesagt und mich deshalb zum Weitermachen entschlossen. Das Amt des Papstes ist kein Job in der Tankstelle oder im Kaufhaus, den man einfach an den Nagel hängen kann, wenn man keine Lust mehr hat. Doch ich muss mir selbst und meiner Kirche eingestehen, dass ich Fehler gemacht habe. Ich glaubte, die Reformen sinnvoll und für alle tragbar durchzuführen, aber für die konservativen Kreise der Gläubigen und auch der kirchlichen Amtsträger ging das meiste viel zu schnell, und es war zu viel auf einmal. Verheiratete Priester und Frauen im Priesteramt, das hätten wir nicht auf die Tagesordnung setzen sollen, nicht so schnell und nicht beides zum selben Zeitpunkt.«
»Sie wollen das Zölibat aufheben und Frauen die Priesterweihe gestatten?«, fragte Alexander verblüfft.
»Noch ist nichts offiziell«, beeilte Luu sich zu sagen. »Wir haben diese Punkte auf Wunsch Seiner Heiligkeit der Kongregation der Kardinäle zur Beratung vorgelegt. Aber das hat schon ausgereicht, um diese Verräter zur Abspaltung zu bringen.«
»Sagen wir lieber, es war der berüchtigte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat«, schränkte Papst Custos ein.
»Beide Punkte sind ebenso vernünftig wie notwendig, wenn die Kirche nicht in naher Zukunft ohne ausreichendes Personal dastehen soll. Ich glaubte, solch große, schmerzhafte Einschnitte sind im Paket leichter zu ertragen, aber da habe ich mich geirrt.«
Die Andeutung eines bitteren Lächelns umspielte seine Lippen.
»So viel zur viel besungenen Unfehlbarkeit des Papstes.«
Luu ergriff wieder das Wort, wobei er sich an Alexander und Donati wandte: »Vielleicht sollten wir jetzt auf den eigentlichen Grund unseres Zusammentreffens kommen, auf die schrecklichen Morde an unseren Geistlichen.«
»Morde?«, wiederholte Alexander. »Gibt es denn mehrere?«
»Bislang zwei«, sagte Donati. »Wussten Sie das nicht, Signor Rosin?«
Elena Vida klebte ihren Daumen auf den Klingelknopf neben dem Türschild mit der Aufschrift »Parolini«. Sie hörte den durchdringenden Klingelton, der ohne Unterlass durch die Hochhauswohnung schrillte, und fragte sich, wie lange das ein Mensch aushalten konnte, der seine Ohren nicht mit Wachs versiegelt hatte. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass niemand zu Hause war. Aber der sechste Sinn, den Elena im Laufe ihrer Journalistenlaufbahn entwickelt hatte, sagte ihr, dass hinter der in billigem Weiß gestrichenen Wohnungstür jemand furchtbar unter dem Dauerklingeln litt. Wie groß musste da erst die Furcht vor demjenigen sein, der die Klingel betätigte? In Situationen wie dieser konnte Elena ihren Job fast hassen. Für sie war es alles andere als ein Spaß, einer alten Frau Angst einzujagen. Aber so etwas gehörte zum täglichen Brot ihres Berufslebens.
Als Elenas Daumen schon zu schmerzen begann, ertönte aus der Wohnung eine keifende Stimme: »Hören Sie endlich damit auf, zum Teufel! Wir machen nicht auf!«
Es war die Stimme einer Frau, allerdings nicht die einer alten.
Elena vermutete, dass sie Arietta Parolini gehörte. Sie nahm den Daumen von der Klingel und fragte im besten Unschuldston:
»Warum wollen Sie nicht aufmachen?«
»Weil wir nicht mit Ihnen sprechen wollen.«
»Aber Sie wissen doch gar nicht, wer ich bin.«
»Und ob wir das wissen! Sie sind von der Zeitung, oder vom Fernsehen oder Radio. Stimmt’s?«
»Von der Zeitung, ja. Ich heiße Elena Vida und schreibe für den ›Messaggero di Roma‹.«
»Ist doch egal, für wen Sie schreiben. Hier ist niemand, der mit Ihnen sprechen möchte.«
»Vielleicht kann Ihre Mutter mir das selbst sagen«, schlug Elena vor.
»Meine Mutter? Die ist nicht hier.«
»Da haben mir ihre Nachbarn in Trastevere aber etwas anderes erzählt.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Elena vermutete, dass Arietta
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