Engelsfluch
erlebten wir etwas mit, was an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit stattfand, obwohl wir nicht dort waren.«
»Was haben Sie erlebt?«, fragte Enrico.
Angelos knochige Hand fuhr durch seinen langen Bart. »Wir mussten der Kirche versprechen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Aber vieles ist geschehen, und selbst die Kirche ist nicht mehr dieselbe und hat sich gespalten. Vielleicht ist es gut, wenn ich mein Wissen weitergebe, denn bald werde ich meinem Bruder folgen.« Sein Blick heftete sich auf Alexander. »Du bist der, dem Papst Custos sein Leben verdankt.«
Es war eigentlich keine Frage, aber trotzdem sagte Alexander: »Ja, der bin ich.«
»Du sollst hören, was der Engel mich sehen ließ. Vielleicht ist es an dir, den Papst ein zweites Mal zu retten. Höre: Ich stand auf schwankendem Boden, und rings um mich war der Himmel voller Feuer und Rauch. Die Menschen klagten um ihre vielen Toten, und ihre Häuser waren nur noch Ruinen. Zwischen den Toten und Verletzten, den Klagenden und den Mutlosen schritt mit gebeugtem Haupt der Heilige Vater einher, und Tränen flossen über seine Wangen. Er ging einen steilen Weg bergan, an dessen Ende ein großes Kreuz auf ihn wartete. Diejenigen unter den Menschen, die ihren Mut noch nicht ganz verloren hatten, blickten den Heiligen Vater mit neuer Hoffnung an und warteten darauf, dass er das Kreuz berührte, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Aber plötzlich waren Feuer und Rauch nicht nur am Himmel, sondern auch rings um den Heiligen Vater und die, die ihm folgten. Die Hölle schien sich aufgetan zu haben, um diejenigen zu verbrennen, auf denen die Hoffnung der Menschen ruhte.«
Angelo schwieg und atmete heftig, als hätte er das eben Erzählte hautnah miterlebt. Seine Züge verrieten Angst.
»Was noch?«, fragte Alexander. »Was ist mit dem Heiligen Vater geschehen?«
»Mehr weiß ich nicht«, sagte der Einsiedler fast tonlos. »Hat der Höllenatem den Heiligen Vater wirklich verbrannt? Ich kann es nicht sagen. In mir war eine große Leere, und ich fühlte mich schwach, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen. Ich setzte mich auf den Boden, und als ich wieder aufblickte, war der Engel verschwunden.«
»Eine seltsame Vision«, seufzte Alexander.
»Nein, gar nicht«, widersprach Vanessa. »Sie hat erschreckend viele Übereinstimmungen mit der dritten Prophezeiung von Fatima, die im selben Jahr empfangen wurde, in dem auch Angelo Piranesi und sein Bruder Fabrizio den Engel sahen. In der dritten Prophezeiung von Fatima ist ebenfalls von großer Verwüstung die Rede und von einem steilen Berg mit einem hohen Kreuz. Was Angelo als plötzliches Auftreten von Feuer und Rauch bezeichnet hat, könnte das Attentat sein, das in der Prophezeiung von Fatima erwähnt wird.«
Der Einsiedler nickte. »Ich spüre, dass das Leben des Heiligen Vaters bedroht ist. Die Erfüllung meiner Vision steht kurz bevor. Vielleicht aber könnt ihr es verhindern.«
Alexander stützte die Stirn in die Hand, als sei ihm sein Kopf angesichts all dieser Enthüllungen zu schwer geworden.
»Wenn es doch eine Prophezeiung ist, eine Botschaft Gottes, wie können wir einfache Menschen an dem etwas ändern, das von höchster Stelle beschlossen ist?«
»Wenn jemand etwas ändern kann, dann einfache Menschen «, behauptete Vanessa und sah Alexander an.
»Vergessen Sie nicht, dass Gott den Menschen einen freien Willen gegeben hat, um eigenverantwortlich über ihr Schicksal zu bestimmen. Nach Gottes Plan kann ein jeder selbst entscheiden, ob er sich dem Vorherbestimmten fügt oder nicht.
Wenn Gott den Menschen eine Botschaft schickt, kann das auch die Aufforderung sein, etwas gegen das zu unternehmen, was geschehen soll. Es kann eine Warnung und zugleich eine Prüfung sein.«
»Das sind aber viele Kanns«, seufzte Elena. »Angenommen, diese Vision stammt wirklich von Gott, dann macht er es den Menschen nicht gerade einfach, das Richtige zu erkennen.«
Vanessa lächelte nachsichtig. »Das wäre ja auch keine besondere Prüfung, oder?« Sie wandte sich an den Einsiedler.
»Hat Ihr Bruder dasselbe gesehen – oder erlebt – wie Sie?«
»Nein. Als wir über das sprachen, was der Engel uns gezeigt hatte, kam heraus, dass Fabrizio etwas ganz anderes gesehen hatte.«
Vanessa beugte sich zu Angelo vor und sah ihn gespannt an.
»Was?«
»Er sah eine Welt, in der die Kirche sich gespalten hatte. Ein zweiter Papst machte dem Heiligen Vater die Gläubigen abspenstig. Aber nur ein Papst folgte dem
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