Engelsfluch
Menschen hier mögen keine Fremden, schon gar keine, die Fragen stellen.«
»Wem sagen Sie das!«, stieß Alexander hervor und rieb seine noch immer von den Fesseln schmerzenden Handgelenke.
»Aber warum stehen sie Fremden so abweisend gegenüber?«
»Über die Jahrhunderte hinweg sind immer wieder Fremde zu uns in die Berge gekommen, die glaubten, sie könnten die Engelsmacht für ihre Zwecke nutzen. Manche Engelssöhne gingen mit ihnen, und die Macht der Engel wurde schwächer.
Auch Tomás Salvati wurde uns von der Kirche genommen, und jetzt bin ich der Letzte, der über diese Kraft verfügt. Wohl gibt es noch ein paar andere mit dieser Gabe, aber bei ihnen ist sie zu schwach, um wirken zu können.«
»Verstehe«, brummte Alexander. »Die Menschen haben Angst, dass man Sie auch noch wegholt. Deshalb die ablehnende Haltung gegenüber Fremden und die Bereitschaft, Menschen zu entführen und einzusperren.«
Angelo war die Verärgerung, die in Alexanders Worten mitschwang, nicht entgangen. Er heftete seinen Blick auf Alexander und sagte: »Vergiss nicht, was du den Leuten versprochen hast!«
»Keine Sorge. Der Polizei gegenüber werden wir das Wort Entführung nicht erwähnen.« Er sah sich in dem unterirdischen Raum um und grinste. »Offiziell sind wir zur Sommerfrische hier gewesen. Eine sehr erhellende Sommerfrische überdies. Die Verbindung zwischen Borgo San Pietro und den ermordeten Priestern ist hochinteressant. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Dottesio und Carlini kurze Zeit nach ihren Recherchen die Glaubenskongregation und den Vatikan verlassen haben. Als habe ihnen jemand nahe gelegt, sich aus der Schusslinie zu bringen.«
»Damals war aber noch gar nicht absehbar, dass die Kirche sich spalten und dass Salvati zum Gegenpapst gewählt werden würde«, wandte Elena ein.
»Wirklich nicht?«, fragte Alexander. » Totus Tuus plant seine Unternehmungen von langer Hand. Vielleicht dachte man im Orden damals nicht an eine Kirchenspaltung, vielleicht aber an die Möglichkeit, Salvati eines Tages ins Amt des Papstes zu heben.«
»Das würde bedeuten, dass der Gegenpapst diesem Orden angehört«, schlussfolgerte Vanessa.
»Nicht notwendigerweise«, entgegnete Alexander.
»Vielleicht vertritt er einfach eine Linie, die Totus Tuus genehm ist, und weiß nicht einmal, wem er in die Hände spielt. Aber wir haben noch keine plausible Erklärung dafür, dass Dottesio und Carlini gerade jetzt ermordet wurden.«
»Doch, die haben wir«, meinte Elena. »Durch seine Wahl zum Gegenpapst ist Salvati ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt, weltweit. Wer immer hinter ihm steht, muss befürchten, dass seine Wundertaten, mögen sie auch Jahre zurückliegen und sich in der Abgeschiedenheit dieser Berge ereignet haben, ans Licht gezerrt werden. Außerdem trat noch Vanessa auf den Plan, die Kontakt zu den beiden aufnahm.«
»Aber nicht deswegen«, sagte Vanessa. »Ich wollte für mein Buch nur einen Zugang zu den wirklichen Geheimnissen des vatikanischen Geheimarchivs haben.«
»Das wussten die Mörder beziehungsweise ihre Auftraggeber nicht«, fuhr Elena fort. »Sie mussten befürchten, dass Dottesio und Carlini etwas ausplaudern, und sei es auch nur unabsichtlich. Immerhin fällt auch die Prophezeiung von Borgo San Pietro unter das Thema Ihres geplanten Buches. Nur der Tod der Priester konnte die Gefahr endgültig beseitigen.«
»Ergibt das wirklich einen Sinn?«, fragte Enrico, der sich schwer damit tat, seinen Vater als möglichen Verbündeten und Mitwisser der Priestermörder zu sehen. »Warum sollte die Öffentlichkeit nichts von Salvatis Wundertaten erfahren? Auch Papst Custos ist mit seinen besonderen Fähigkeiten an die Öffentlichkeit getreten.«
»Was ihm nicht nur Lob, sondern auch eine Menge Tadel eingetragen hat. Viele seiner Gegner bezeichnen die Behauptung, er stamme von Jesus ab, als Ketzerei, als Gotteslästerung. Ein Gegenpapst, der mit sehr ähnlichen Wundertaten aufwartet, wäre der Allgemeinheit kaum vermittelbar gewesen, mag er seine Kräfte nun auf Jesus oder irgendwelche Engel zurückführen. Wenn Totus Tuus diesen Mann als neuen Papst durchsetzen wollte, musste der Orden alle Hinweise auf seine heilenden Kräfte tilgen.«
Der Schwerpunkt des Gesprächs verlagerte sich vom Gegenpapst zurück zur Vision der beiden Piranesi-Brüder. Sie hätten nur diese eine Engelserscheinung gehabt, die sie wenige Wochen später einem Bischof gegenüber zu Protokoll gaben, erzählte Angelo. Sie seien
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