Engelsfluch
Gastfreundschaft der Leute aus Borgo San Pietro in Anspruch genommen haben. Ich denke, meine Freunde sind damit einverstanden.«
Ein kurzer Blick in die Runde bestätigte ihm die Richtigkeit seiner Annahme.
Angelo blickte Livio an und fragte: »Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht recht. Die können uns viel versprechen.«
»Sie können uns nicht ewig hier festhalten«, gab Enrico zu bedenken. »Wenn die Polizei uns gewaltsam befreit, stehen Sie weitaus schlechter da. Vertrauen Sie uns!«
Angelo nickte Livio aufmunternd zu, und der Mann mit dem roten Gesicht ließ seine Schrotflinte sinken.
»Also gut«, seufzte er. »Ihr seid frei und könnt gehen, wohin ihr wollt.«
»Am liebsten zu unseren Autos«, meinte Vanessa. »Aber wo sind die?«
»Sie stehen in einer alten Scheune. Wir werden sie zum Parkplatz vor dem Dorf bringen.«
»Gut«, sagte Vanessa beinah heiter, »dann nichts wie los!«
Sie wollte den Raum verlassen, aber Angelo machte eine abwehrende Handbewegung, die sie anhalten ließ.
»Ich würde gern noch mit euch sprechen«, sagte der Einsiedler. »Ich allein. Livio, ihr anderen verlasst bitte diesen Ort!«
»Natürlich, Angelo«, antwortete Livio ungewohnt zahm, und die bewaffneten Dörfler zogen sich aus dem Raum und dem unterirdischen Gang zurück.
Der Einsiedler nahm auf einem Schemel Platz und seufzte.
»Was hier geschehen ist, ist zum Teil meine Schuld, auch wenn ich nichts davon wusste. Ich hätte mit der menschlichen Neugier rechnen müssen, mit dem Drang, das Unbekannte kennen zu lernen und das Dunkle zu erhellen. Das habe ich unterschätzt, und beinah hätte es Menschenleben gekostet. Außerdem ist einer unter euch, der ein gutes Recht hat, hier zu sein und Fragen zu stellen.« Als er den letzten Satz aussprach, ruhte sein Blick auf Enrico.
»Warum habe ich dieses Recht?«, fragte Enrico. »Weil ich zu Ihnen hier gehöre, etwa? Weil meine Mutter aus diesem Dorf stammte?«
Angelo nickte. »Du hast die Kraft in dir, du bist ein Engelssohn.«
Enrico erschrak bei diesem Wort und dachte an den Geflügelten aus seinem Traum. »Was heißt das, ein Engelssohn?«
»So nannte man früher diejenigen, aus deren Händen die heilende Kraft strömte. Es heißt, die Engel hätten diese Gabe den Vorvätern überbracht zum Dank dafür, dass sie von ihnen freundlich aufgenommen wurden.«
»Verfügen nicht alle Menschen in Borgo San Pietro über diese Gabe?«
»Es werden immer weniger. Bei einigen ist die Gabe noch sehr schwach vorhanden, aber längst nicht so stark wie bei dir oder mir. Dies ist keine Zeit für Engel. Auch nicht an diesem Ort, der lange Zeit als auserwählt galt.«
»Noch in Ihrer Kindheit, nicht wahr, Signor Piranesi?«, hakte Vanessa nach. »War es nicht ein Engel, der Ihnen und Ihrem Bruder die Prophezeiung überbracht hat?«
Lange saß der Einsiedler mit in sich gekehrtem Blick da, als habe er Mühe, sich an seine lang zurückliegende Kindheit zu erinnern. Als er seine Lippen öffnete, sprach er leise: »Es war eine leuchtende Gestalt, wunderschön, mit ebenmäßigen Zügen, wie ich sie bei keinem Menschen gesehen habe. Ihre Haut schimmerte wie goldene Seide, und die Gestalt schien über dem Boden zu schweben. Die Flügel auf ihrem Rücken verliehen ihr das Aussehen eines Engels, aber sie hatten keine Federn. Ich kann nicht sagen, wie diese Schwingen beschaffen waren.«
»War es ein Mann oder eine Frau?«, fragte Enrico.
»Vielleicht beides, vielleicht keins davon, ich weiß es nicht.«
»Möglicherweise haben Engel kein Geschlecht«, gab Elena zu bedenken und fragte Angelo: »Haben Sie und Ihr Bruder sich nicht gefürchtet?«
»Anfangs ja. Wir wollten weglaufen, aber irgendetwas hielt uns fest wie eine unsichtbare Riesenfaust. Da war eine Stimme in unseren Köpfen, obwohl der Leuchtende nicht die Lippen bewegte. Die Stimme sagte uns, wir sollten Vertrauen haben und uns nicht fürchten. Uns würde kein Leid geschehen. Wir seien auserwählt worden, um eine wichtige Botschaft zu empfangen.«
»Auserwählt von wem?«, wollte Vanessa wissen.
»Das sagte die Stimme nicht. Aber Fabrizio und ich glaubten, nur Gott konnte diesen Engel gesandt haben.«
»Und dann hat der Engel Ihnen und Fabrizio seine Botschaft übermittelt?«, fragte Enrico.
»Ja und nein. Wieder sahen wir den Engel nicht sprechen, und wir hörten auch keine Stimme. Es war anders, und es lässt sich kaum beschreiben. Ein Erlebnis, wie ich es niemals zuvor und auch nie wieder danach hatte. Es war, als
Weitere Kostenlose Bücher