Engelsfluch
ermahnt worden, mit niemandem darüber zu sprechen.
Seit jenem Tag im Mai 1917, als ihnen der Engel erschienen war, war das Leben für Angelo und Fabrizio nicht mehr dasselbe gewesen. Beide fühlten sich auf besondere Art zu Gott hingezogen, und Fabrizio entschied sich für ein Leben in der Abgeschiedenheit des Klosters. Angelo wurde daraufhin von den Menschen in Borgo San Pietro bestürmt, den Ort nicht zu verlassen, weil er einer der letzten verbliebenen Engelssöhne mit der ausgeprägten Gabe der Heilkraft war. Angelo beugte sich dem Wunsch, wurde aber bald zum Einsiedler und zog sich in die Abgeschiedenheit der etruskischen Totenstadt zurück. Er suchte die Nähe der Engel, wie er es ausdrückte, und floh die Nähe der Menschen.
Viel mehr konnte Angelo ihnen nicht mitteilen, und schließlich begleitete er sie zum Parkplatz, wo die Fahrzeuge der Entführten nebeneinander aufgereiht standen. Auf den Sitzen lagen die Handys, die man ihnen abgenommen hatte, und auch Alexanders Automatik. Von den Dorfbewohnern war niemand zu sehen. Angelo ermahnte die vier Fremden noch einmal, an ihr Versprechen zu denken.
»Keine Sorge«, beschwichtigte Elena ihn. »Wir werden der Polizei von einem harmlosen Ausflug in die Berge erzählen, mehr nicht.«
»Nur ein harmloser Ausflug in die Berge, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte zwei Stunden später ein wütender Fulvio Massi, als sie ihm auf der Polizeiwache von Pescia Bericht erstatteten. »Drei Menschen verschwinden spurlos, sind nicht zu erreichen, und dann tun Sie so, als sei nichts gewesen? Und Sie, Signor Rosin, wozu habe ich Ihnen diesen teuren Apparat mitgeben lassen? Wo ist er überhaupt?«
Alexander kramte in seinen Jackentaschen und legte den Peilsender auf Massis Schreibtisch. »Bitte sehr, Commissario.
Es ist leider kaputtgegangen.«
Massi erhob sich von seinem schweren Drehstuhl und sprach mit einer Stimme, die mühelos den Fernseher übertönte, der in einer Ecke lief und eine Sondersendung über die Katastrophe am Golf von Neapel zeigte: »Ich weiß nicht, was da oben in den Bergen geschehen ist. Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Sie vier verschweigen mir nicht nur etwas, sondern eine ganze Menge. Ich hätte nicht übel Lust, Sie allesamt wegen Behinderung der Polizeiarbeit einzusperren.«
»Zwei Journalisten des ›Messaggero di Roma‹ von der toskanischen Polizei widerrechtlich festgehalten«, sagte Elena und nickte anerkennend. »Da freut sich aber die italienische Presse. Sie werden reichlich Schlagzeilen bekommen, Commissario, aber wohl kaum solche, die sich in Ihrer Personalakte gut machen.«
Massis Kopf ruckte zu ihr herum. »Wollen Sie mir drohen, Signorina?«
»Nicht mehr als Sie uns, Signor Massi.«
Die Blicke Elenas und des Commissario trafen sich zu einem stummen Duell. Schließlich wandte der stellvertretende Polizeichef von Pescia sich von ihr ab und blickte Enrico an.
»Warum vertrauen Sie mir nicht? Habe ich Ihnen nicht nach besten Kräften geholfen, Ihnen allen?«
Enrico tat es Leid, dass sie mit Massi Katz und Maus spielten. Ohne die Unterstützung des Commissario wäre es vielleicht nicht gelungen, Elena zu retten. Andererseits wollte er das Angelo gegebene Wort nicht noch einmal brechen, zumal die Schuld, in der sie Angelo gegenüber standen, nach seinem Dafürhalten ungleich größer war. Zögernd sagte Enrico: »Borgo San Pietro ist ein besonderer Ort, das sollten Sie doch wissen, Commissario. Er birgt viele Geheimnisse, und nur wenige davon gibt er preis. Nicht jedes Geheimnis ist für alle Ohren bestimmt.
Denken Sie an das Schweigen Ihrer eigenen Schwester! Sie hat ihre Lippen sicher nicht gern vor Ihnen verschlossen. Vielleicht sollten Sie mit ihr sprechen, Commissario. Was die Geheimnisse von Borgo San Pietro angeht, muss jeder seinen eigenen Weg finden.«
Massi setzte sich wieder, wie um über Enricos Worte nachzudenken. In das Schweigen, das für kurze Zeit in seinem Büro herrschte, brach die Stimme eines Fernsehmoderators: »Im Rahmen unserer Sonderberichterstattung über das Katastrophengebiet im Süden des Landes schalten wir gleich zu unserem Korrespondenten in Neapel, Luigi Pericoli. Er hat interessante Neuigkeiten über den Streit zwischen Papst und Gegenpapst.«
Hinter dem Moderator wurde der Korrespondent eingeblendet, der vor dem Dom von Neapel stand. Das Bauwerk hatte schwere Schäden davongetragen und war durch Absperrseile gesichert. Der Himmel über Neapel war düster, fast schwarz, was
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