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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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zögernden Schritten nahm er die Biegung, hinter der sich unvermutet ein weites Tal öffnete. Nein, das war nicht einfach ein Tal, es war Wasser. Ein großer unterirdischer See.
    Ganz still lag der See vor ihm. Kein noch so kleiner Lufthauch rief das Kräuseln einer Welle hervor. Es sah einladend aus, und er wollte sich dem See schon nähern, da spritzte das Wasser unvermutet in alle Richtungen wie von der Schwanzflosse eines Riesenwals aufgepeitscht. Vor ihm, neben ihm und rings um ihn fielen schwere Tropfen auf den Boden. Und wo das Wasser –
    oder was immer es war – das Felsgestein berührte, ätzte es tiefe Löcher hinein.
    Unwillkürlich machte er ein paar Schritte zurück, während er ungläubig auf den so plötzlich zum Leben erwachten See starrte.

    Aus dessen brodelnder Mitte tauchte etwas auf, das seine Augen blendete, seinen Verstand überforderte und sein Innerstes mit Schrecken erfüllte. Er wandte sich zur Flucht und rannte davon.
    Und in seinem Kopf war die unheimliche Stimme. Bleib hier und ängstige dich nicht! Ich bin bei dir, mein Sohn!
    Schweißgebadet erwachte Enrico und benötigte einige Zeit, um herauszufinden, wo er war. Anfangs kam ihm der hohe, große Raum mit dem nackten Mauerstein und den schweren Holzbalken an der Decke fremd vor, wie ein Bild aus seinem Traum – aus dem immer wiederkehrenden Alptraum, der schon seit frühester Kindheit auf ihm lastete. Und doch war etwas anders, stellte Enrico bei genauerem Nachdenken fest. Noch nie war das Erlebnis so intensiv und trotz des surrealistischen Ambientes so real gewesen. Real? Der Begriff erschien ihm paradoxerweise nicht unpassend. Ihm war wirklich, als hätte er nicht nur geträumt, sondern als sei er tatsächlich in einer unterirdischen Welt gewesen, in einem Labyrinth aus Stein.
    Der Teil seines Verstands, der sich mit seinem derzeitigen Aufenthaltsort beschäftigte, identifizierte den seltsamen Raum, dessen Konturen im durch die hölzernen Fensterläden einfallenden Mondlicht gut zu erkennen waren, als das Hotelzimmer in Pescia, das er heute bezogen hatte. Wirklich heute? Mit einer fahrigen Bewegung fischte er seine Armbanduhr vom Nachttisch und drückte auf den winzigen Lichtknopf. Es war schon vier Uhr morgens, also Dienstag, sein zweiter Tag in der Toskana.
    Enrico wollte ins Bad gehen, um sich etwas zu erfrischen.
    Aber sobald er aufstand, begann sich das Zimmer um ihn zu drehen. Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen, schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig durch. Der Schwindelanfall kam für ihn nicht überraschend. Er hatte so etwas häufig nach diesem Alptraum.

    Nach fünf Minuten ging es ihm besser. Der Schwindel war verflogen, aber er fühlte sich ausgedörrt, als hätte die Hitze der Traumwelt seinen Körper wahrhaftig umschlungen gehalten. Er zog seinen schweißnassen Pyjama aus und ging nackt ins Bad, wo er den Mund unter den Wasserhahn hielt, bis sein brennender Durst gestillt war. Anschließend stellte er sich für eine kleine Ewigkeit unter die Dusche. Er ging nicht wieder ins Bett, dazu war er viel zu aufgewühlt. Stattdessen zog er sich an, stellte einen Stuhl an eins der Fenster, das er weit öffnete, und wartete auf den Sonnenaufgang. Die kühle Nachtluft tat ihm gut, und er dachte daran, was er hier in den norditalienischen Bergen finden mochte. Aber vielleicht sollte er sich erst einmal darüber klar werden, was er überhaupt suchte. Irgendwann bemerkte er den rötlichen Lichtschimmer zu seiner Linken. Allmählich wurde daraus ein stärkeres Leuchten, und die Sonne schob sich über den Horizont, um ihr Licht auf die Landschaft zu werfen, die Enrico in aller Ruhe betrachtete. Irgendwo weit vor ihm, im Süden, begann jener Teil der Toskana, den man in Fotokalendern und auf den Abbildungen unzähliger Reisebücher fand: grüne Wiesen, die sich zu sanft geschwungenen Hügeln wölben, in die Felder voller roter oder gelber Blumen eingewoben sind, um dem Auge des Betrachters die nötige Abwechslung zu bieten; dazwischen Weinstöcke, Olivenbäume und Zypressen. Die Gegend um Pescia war anders, markierte den Übergang zum toskanischen Bergland. Das Hotel »San Lorenzo« stand inmitten einer weitläufigen Anlage nördlich der Stadt. Er konnte von Pescia nur ein paar Dächer und Kirchtürme erkennen. Dort war das Land noch Verhältnismäßig flach. Wenn er aber nach rechts und links blickte, türmten sich schroff die Berghänge auf, als wollten sie sagen: Bis hierher und nicht weiter!
    Das helle Licht

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