Engelsfluch
der mediterranen Sonne vertrieb die Erinnerung an seine schlechte Nacht und erfüllte Enrico mit Optimismus. Sein Magen knurrte, und er beschloss, frühzeitig in den Frühstücksraum zu gehen, bevor Scharen von Touristen dort einfielen. Aber der Raum, der tagsüber als Cafe und Weinlokal diente, war nur klein und schon jetzt überfüllt. Er konnte auch nicht einen freien Tisch entdecken.
»Wenn Sie möchten, können Sie sich zu mir setzen. Ich erwarte niemanden mehr.«
Enrico lächelte. Die Sonne der Toskana schien es wirklich gut mit ihm zu meinen. Eine junge Frau, die allein an einem Tisch saß, hatte ihn angesprochen. Und was für eine Frau! Ihr Anblick brachte das italienische Blut in seinen Adern zum Wallen. Sie war außerordentlich hübsch und trug, als wolle sie ihr schönes Gesicht niemandem vorenthalten, das dunkle Haar kurz geschnitten. Enge Jeans betonten ihre langen, schlanken Beine, und unter dem weißen Top zeichneten sich frauliche Formen ab. Als er an ihren Tisch trat, zwang er sich, sie nicht mit seinen Blicken zu verschlingen.
»Enrico Schreiber, Tourist«, stellte er sich vor. »Gestern erst angekommen und noch vollkommen fremd in dieser schönen Gegend. Ach ja, und ich erwarte auch niemanden mehr.«
»Sie sehen aus wie ein Italiener und sprechen wie ein Italiener«, stellte die schöne Unbekannte fest. »Aber der Name Schreiber klingt deutsch, österreichisch oder meinethalben auch schweizerisch. Jedenfalls nicht italienisch.«
»Das ist er auch nicht. Ich bin deutscher Staatsbürger, und mein Vater war Deutscher. Aber meine Mutter war eine waschechte Italienerin. Sie stammte aus dieser Gegend. Und mit wem habe ich das unerwartete Vergnügen?«
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich heiße Elena, bin auch Touristin und auch erst gestern hier angekommen. So ein Zufall, nicht?«
»Ein überaus willkommener und angenehmer Zufall«, sagte Enrico, als er ihre Hand ergriff. »Elena also, und wie weiter?
Müller, Meier oder Schmidt? Aus Berlin oder aus Hamburg?«
Sie lachte, und das stand ihr sehr gut. »Weder noch. Ich heiße Elena Vida und komme aus Rom.«
Enrico bestellte sich einen Cappuccino und bediente sich am kleinen Büfett mit frischem Brot, Schinken und Melonenspalten.
Während er hungrig zulangte, fragte seine neue Bekannte, ob er die Familie seiner Mutter besuchen wolle.
»Soweit ich weiß, gibt es keine Familie in diesem Sinne mehr, jedenfalls keine näheren Angehörigen. Aber Sie haben trotzdem nicht ganz Unrecht, Elena, ich möchte mir das Dorf ansehen, aus dem meine Mutter stammt. Seltsam, dass mich diese Idee ausgerechnet jetzt packt.«
»Wieso seltsam?«
»Weil meine Mutter im letzten Monat gestorben ist. Man könnte doch meinen, dass ich mich schon früher für ihre Heimat hätte interessieren sollen.«
»Ich finde das gar nicht seltsam. Sie haben Ihre Mutter verloren. Da ist es nur natürlich, dass Sie hier etwas von ihr wiederzufinden hoffen.«
»Vielleicht«, sagte Enrico nachdenklich und sah durch die großen Fenster hinaus auf die grün bewaldeten Berge. »Als Erwachsener macht man sich nicht so viele Gedanken, was einem die Eltern bedeuten. Erst wenn sie nicht mehr da sind, merkt man es.«
»Ihr Vater ist auch schon tot?«
»Ja.«
»Und früher sind Sie nie hier gewesen, auch nicht mit Ihrer Mutter?«
Er schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist als sehr junge Frau von hier weggegangen und niemals wieder zurückgekehrt, auch nicht zu einem kurzen Besuch. Sie war der Meinung, nun sei Deutschland ihre Heimat.«
»Wenigstens hat sie Ihnen perfekt Italienisch beigebracht.«
Enrico grinste. »So sehr deutsch war sie nun auch wieder nicht. Sie hat die ihr fremde Sprache nie hundertprozentig gelernt und sich mit mir immer auf Italienisch unterhalten.«
»Wie heißt der Ort, aus dem Ihre Mutter stammt?«
»Es ist nur ein winziges Nest hoch oben in den Bergen.
Borgo San Pietro.«
»Klingt interessant. Das sollte ich mir wohl auch ansehen.«
»Aber hier ist die Toskana! Wollen Sie nicht viel lieber Florenz und Pisa erkunden, Siena und Lucca?«
»Das meiste kenne ich schon, und wirklich schön finde ich nur das kleine, zumeist übersehene Lucca. Aber ich stehe nicht auf Menschenmassen, die einander auf die Füße trampeln. Dann hätte ich auch in Rom bleiben können. Nein, ich habe mir extra hier ein Zimmer genommen, weil ich die angeblich so malerischen Bergdörfer abklappern will. In einem Reisebuch habe ich viel darüber gelesen und bin regelrecht
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