Engelsfluch
zu zeigen. Du weißt, dass er ein mutiger Mann ist.«
Sie nickte. »Nur ein mutiger Mann kann das vollbringen, was er sich vorgenommen hat.«
Dann erzählte sie von ihrem Gespräch mit Sandrina Ciglio und legte die Kette in die Mitte des kleinen Tisches. »Ein relativ billiger religiöser Schmuck. Aber mit etwas Glück ist es ein Hinweis auf die Mörder Dottesios.«
Alexander nahm die zierliche Kette in die Hand und betrachtete sie eingehend. »In der Tat nicht sehr aufwendig, aber doch echtes Silber.«
»Oh!«, machte Elena überspitzt. »Der Herr kennt sich aus?«
»Nicht besonders, aber ich besitze die gleiche Kette.«
»Du meinst, eine ähnliche.«
»Nein, ich meine die gleiche.« Er hielt ihr die Rückseite des kleinen Kreuzes vor die Nase. »Wenn du deine hübschen Augen ganz doll anstrengst, wirst du hier eine winzige Gravur entdecken. Nur drei Buchstaben: MSN. Dieselbe Gravur hat auch mein Kreuz. Ich muss es noch irgendwo haben.«
»Woher hast du das mit der Gravur gewusst? Mir ist sie nicht aufgefallen, so klein ist sie.«
»Die Gravur ist der Clou an dem Kreuz, hat vermutlich am meisten daran gekostet.«
Verblüfft starrte Elena ihn an. »Gleich sagst du mir auch noch, was diese Buchstaben bedeuten, wie?«
»Sie stehen für die drei Schutzheiligen der Schweizergarde: der heilige Martin, der heilige Sebastian und der heilige Niklaus von Flüe.« Als Elena ihn mit offenem Mund ansah, fuhr er fort:
»Der Gardekaplan, damals noch Franz Imhoof, hat jedem Gardisten so ein Kreuz als Ostergeschenk überreicht. Das war in meinem ersten Jahr bei der Garde.«
»Die Kette eines Schweizergardisten!«, staunte Elena. »Das wirft ein ganz neues Licht auf den Mord.«
»Ja, leider«, seufzte Alexander. »Ein sehr hässliches Licht.«
3
Pescia, nördliche Toskana,
Dienstag, 22. September
Er ahnte, nein, er wusste, dass in dem steinernen Labyrinth etwas Unheimliches, Böses auf ihn wartete. Trotzdem ging er weiter, setzte einen Fuß vor den anderen wie unter einem geheimen Zwang. War es Neugier, die stärker war als seine Furcht und ihn vorantrieb? Er kannte die Antwort nicht, und ihm war auch nicht danach, länger darüber nachzudenken. Der verschlungene Pfad, der mal durch enge Gänge, dann wieder über geländerlose, kühn geschwungene Steinbrücken führte, beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Einmal blieb er mitten auf einer schmalen Brücke stehen und sah hinab in die Tiefe. Schon in dem Augenblick, als er den Kopf nach unten wandte, wusste er, dass es ein Fehler war. Der gähnende schwarze Schlund unter ihm schien kein Ende zu kennen. Ein falscher Schritt, ein Stolpern nur, und er würde unrettbar in die Tiefe stürzen und nach langem Fall zur Unkenntlichkeit zerschellen. Ihm war plötzlich sehr warm, aber er unterdrückte das drängende Gefühl, sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn zu wischen.
Geh weiter und sieh nicht nach unten!
Das flüsterte eine Stimme direkt in seinem Kopf. Er gehorchte der Stimme. Sie war es gewesen, die ihn in dieses Labyrinth gelockt hatte. Die Stimme war einerseits sanft, fast verlockend, andererseits aber schwang in ihr etwas mit, das keinen Widerspruch duldete. Sie bat nicht, sie befahl.
Um ihn herum gab es nur Felsgestein, kein Gras, keine Bäume, kein Wasser und schon gar keinen Himmel. War er in einem Berg oder unter der Erde? Er wusste es nicht. Er konnte nicht einmal sagen, wie er in dieses Labyrinth geraten war, an welcher Stelle er es betreten hatte. Er wusste nur, dass er der Stimme folgte. Etwas anderes gab es für ihn nicht. Nicht mehr lange, gleich bist du am Ziel! Die Stimme war jetzt laut und klar. Wem immer sie gehörte, er konnte nicht mehr fern sein.
Ein letztes Aufflackern des eigenen Willens ließ ihn stehen bleiben und darüber nachsinnen, was – wer – ihn erwartete und warum. Augenblicklich verspürte er einen sanften, doch zugleich starken Druck in seinem Rücken, wie die Hand eines unsichtbaren Riesen, die ihn weiterschob.
Gleich wirst du alles erfahren, was du wissen willst. Hab nur noch ein wenig Geduld!
Vor ihm machte der Weg eine Kurve, flankiert von steilen, hoch aufragenden Felswänden. Die Wärme wurde stärker, entwickelte sich immer mehr zu einer wahren Hitze, während er monoton einen Fuß vor den anderen setzte. Er konnte kaum noch atmen, was sowohl an der Hitze als auch an seiner Beklemmung liegen mochte, an seiner Furcht vor dem Ungewissen.
Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, mein Sohn!
Langsam, mit
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