Engelsfluch
Mittelding zwischen Dorf und Festung. Borgo San Pietro, denn nichts anderes konnte es sein, machte einen wenig einladenden Eindruck. Türme, Mauern und Zinnen aus dunklem Stein wirkten abweisend, als sei der Ort seinem ganzen Wesen nach darauf ausgerichtet, Fremde fern zu halten. Das Dorf thronte auf diesem Hügel wie das Nest eines großen Raubvogels, der von hier aus über sein Reich wachte.
»Wenn wir näher kommen, werden wir bestimmt mit brennendem Pech und einem Steinhagel empfangen«, scherzte Enrico während er den Fiat außerhalb des Ortes auf einem Parkplatz abstellte, auf dem eine ganze Reihe von Fahrzeugen stand.
»In früheren Jahrhunderten vielleicht. Diese Bergorte waren regelrechte Wehrdörfer, deshalb die verschachtelte Bauweise mit Türmen und Zinnen. Ein Feind sollte es möglichst schwer haben, den Ort zu erobern.«
»Vielen Dank für den Unterricht, Frau Lehrerin«, sagte Enrico grinsend und stieg aus, um sich zu recken und zu strecken. Er war von großer Statur, und die lange Fahrt in dem kleinen Fiat hatte ihn ordentlich zusammengestaucht. »Hier scheint der ganze Ort zu parken. Kein Wunder, durch die engen Dorfgassen passen kaum vier Räder.«
Sie tauchten in die Schatten der schmalen Gassen ein, und Enrico stellte sich vor, wie seine Mutter als Kind ebendiesen Weg gelaufen war. Es war ein seltsamer Gedanke, und er fühlte sich seiner Mutter so nah wie seit ihrem Tod nicht mehr. Trauer überkam ihn, und er war froh über seine Sonnenbrille, die seine Tränen verbarg.
»Übervölkert ist es hier nicht gerade«, stellte Elena fest.
»Vielleicht halten die Leute Siesta, es geht auf Mittag zu.
Oder sie sind ausgewandert. Das würde ich auch tun, wenn ich hier leben müsste. Wenn alle Bergdörfer hier oben so aussehen, wundert mich nicht mehr, dass der Typ vorhin so mies drauf war.«
Vor ihnen wurde es heller, und sie traten auf die Piazza des Dorfes, die einen freundlicheren Eindruck machte als die düstere Gasse hinter ihnen. Außerdem sahen sie hier die ersten Dorfbewohner: ein paar Männer, die vor einer Bar saßen und sich im Schatten eines großen Sonnenschirms lautstark unterhielten. Als sie die beiden Fremden erblickten, verstummte die Unterhaltung, und neugierige Blicke saugten sich an Enrico und Elena fest.
»Wenigstens gibt es hier was zu trinken«, sagte Enrico. »Ich habe einen Durst wie eine Kompanie Fremdenlegionäre nach dem Durchqueren der Sahara.«
»Zwei Kompanien«, berichtigte ihn Elena und hakte sich bei ihm unter. »Gibst du einen Hektoliter aus?«
Sie ließen sich neben den Männern nieder, die ihren Gruß erwiderten, und bestellten eine große Flasche Mineralwasser.
Jetzt, nachdem sie etwas zu trinken hatten und nicht mehr die einzigen Menschen hier waren, wirkte Borgo San Pietro nicht mehr so abschreckend auf Enrico. Die Piazza hatte sogar etwas Malerisches, fand er, und ein Bild von hier hätte sich gut in einem Reiseführer über die Toskana gemacht. Er bezweifelte allerdings, dass viele Touristen oder auch nur wenige Reisebuchfotografen den Weg hierher fanden.
Als der Junge, der auch sie bedient hatte, aus der Bar kam, um ein Bier an den Nachbartisch zu bringen, gab Enrico ihm ein Zeichen und fragte ihn, ob es hier eine Familie Baldanello gebe.
Der Junge sah ihn nur verständnislos an und zuckte mit den Schultern.
Einer der Männer am Nebentisch sagte: »Fragen Sie am besten den Bürgermeister, wenn Sie etwas wissen wollen, oder den Pfarrer.«
Enrico blickte über die Dächer, wo sich in etwa hundert Meter Entfernung die Turmspitze der örtlichen Kirche erhob.
»Den Pfarrer finde ich wohl in seiner Kirche. Und den Bürgermeister?«
»Benedetto Cavara isst um diese Zeit zu Mittag. Sein Haus ist das gelbe dort drüben, direkt neben dem Aufgang zur Stadtmauer.«
Die Familie Cavara bestand aus Benedetto Cavara, seiner Frau, fünf Kindern und der Großmutter. Sie saßen um einen großen Tisch, aßen ein köstlich duftendes Fleischgericht und blickten die beiden Besucher höchst erstaunt an. So, wie man hier jeden unerwarteten Besucher – und andere gab es wohl kaum – anstarrte. Der Bürgermeister trug die Lederschürze eines Schusters und hatte ein rundes Gesicht, das von einem großen Schnurrbart beherrscht wurde. Sobald Enrico mit Elena das Haus betreten hatte, fühlte er sich unwohl. Sie beide waren hier Fremdkörper, vielleicht nicht einmal unerwünscht, aber auf jeden Fall unpassend. Mit leisen Worten, als wolle er die Cavaras nicht noch mehr
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