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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Ahnung, was das Ganze soll. Schauen wir doch einfach nach!«
    Sie liefen zurück auf die Piazza und zu der Stelle, wo Bürgermeister Cavara aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
    Als sie den Mauervorsprung erreichten, sahen sie, dass von dort ein direkter Weg zur Kirche führte. Sie folgten ihm und blieben am Rand des kleinen Kirchenvorplatzes stehen. »Warten wir hier?«, fragte Enrico. »Falls Cavara denselben Weg zurückkommt, wäre es doch eine hübsche Überraschung für ihn, uns hier anzutreffen.« Er lachte trocken. »Ob er uns dann wohl erzählt, er geht jeden Mittag zum Beten in die Kirche?«
    Aber sie warteten vergeblich auf Cavara und beschlossen nach einer Viertelstunde, in der Kirche nachzusehen.
    »Selbst wenn Cavara nicht da ist, ist es dort drinnen auf jeden Fall kühler als hier draußen in der Mittagshitze«, meinte Elena, und Enrico stimmte ihr zu.
    Enrico musste sich anstrengen, um einen Flügel der schweren Kirchentür aufzuziehen. Aber es lohnte sich. Der kühle Lufthauch, der ihm entgegenwehte, war hochwillkommen.
    Enrico störte sich nicht daran, dass die Kirchenluft von durchdringendem Weihrauchgeruch durchsetzt war. Er nahm, wie auch Elena, seine Sonnenbrille ab, und sie betraten das Gotteshaus. Enrico achtete darauf, dass die Tür leise schloss.
    Die Kirche schien leer zu sein, was angesichts der Tageszeit nicht verwunderlich war. Durch die bunten Fenster, auf denen Szenen aus dem Leben Jesu abgebildet waren, fielen Lichtbahnen in das sonst dunkle Kirchenschiff. Enrico und Elena durchschritten die leeren Bankreihen, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen.
    »Was jetzt?«, fragte Enrico, als sie vor dem blumengeschmückten Altar standen. »Hier gibt es weder einen Bürgermeister noch einen Pfarrer.«

    Elena ging zu einer Seitentür und drückte die Klinke nach unten. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf.
    »Hier geht’s weiter«, sagte sie und verschwand durch die Türöffnung.
    Enrico folgte ihr in die Sakristei und flüsterte ihr ins Ohr:
    »Juristisch betrachtet, begehen wir gerade einen Hausfriedensbruch.«
    Elena wandte sich zu ihm um und grinste. »Das macht mir keine Angst, ich habe meinen Anwalt dabei.«
    »Aber mir macht das Angst«, sagte er mit gespieltem Augenrollen. »Man hört so allerlei Unangenehmes von den Bedingungen in italienischen Gefängnissen.«
    »Das trifft aber nur diejenigen, die sich erwischen lassen«, sagte Elena und ging auf eine geschlossene Tür zu, die sich ebenfalls öffnen ließ. »Angst vor Dieben scheint der Pfarrer jedenfalls nicht zu haben. Ich frage mich nur, ob jemand, der für unbestimmte Zeit nach Pisa fährt, alles so unverschlossen zurücklassen würde.«
    Sie kamen in einen schmalen Flur mit einer Garderobe, an der einige Kleidungsstücke hingen, darunter ein schwarzer Priesterrock. Offenbar befanden sie sich jetzt in der Privatwohnung des Pfarrers. Enrico fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, aber Elena schien zunehmend Spaß an dem Abenteuer zu finden. Fast schien es ihm, als mache sie so etwas nicht zum ersten Mal.
    Sie zeigte zum Ende des schmalen, sehr dunklen Flurs. »Da vorn steht eine Tür ein Stück offen. Versuchen wir da unser Glück!«
    Sie drückte die Tür auf, die zu einer Wohnküche führte. Auf dem Tisch standen ein nur halb geleertes Weinglas und ein Teller mit Nudeln und dunkelroter Sauce. Niemand saß an dem Tisch. Aber davor lag ein Mann mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf. Fassungslos betrachtete Enrico die Szene, und auch Elena wirkte wie in der Bewegung erstarrt. Der Mann am Boden rührte sich nicht. Aber sie beide kannten den Mann. Die lederne Schürze hatte Benedetto Cavara noch umgebunden. Er lag in seltsam verrenkter Haltung auf der Seite, und sein glasiger Blick zeigte ins Leere. Enrico beugte sich über ihn, fühlte seinen Puls und versuchte festzustellen, ob er noch atmete.
    »Was ist?«, fragte Elena erregt. »Lebt er noch?«
    Enrico sah zu Elena auf. »Nichts. Der Bürgermeister ist definitiv tot.«
    Er dachte daran, wie Cavara vor noch nicht einer halben Stunde inmitten seiner Familie am Mittagstisch gesessen hatte.
    Seine Mutter, seine Frau und fünf Kinder warteten auf ihn, aber er würde niemals mehr zu ihnen kommen, sein Stuhl würde leer bleiben. Ein flaues Gefühl breitete sich in Enricos Magengegend aus, als ihm bewusst wurde, wie kurz der Schritt vom Leben zum Tod war.
    Elena schien sich einigermaßen gefasst zu haben, und einmal mehr hielt Enrico sie für eine erstaunliche Frau.

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