Engelsfluch
draußen vor dem Krankenhaus der kalte Wind den Regen ins Gesicht peitschte. Das weckte wenigstens seine Lebensgeister ein wenig. Sein Blick fiel auf die Kirchen, die in der Nähe des Hospitals standen: der mächtige Dom, die kleine Kirche Sant’
Antonio Abate und die größere Kirche San Franceso. Wie lange war er, von dem gestrigen Besuch in der Dorfkirche abgesehen, nicht mehr in einem Gotteshaus gewesen, wenn ihn nicht ein äußerer Anlass wie eine Hochzeit im Freundeskreis oder ein Trauerfall in der Familie dazu veranlasst hatte? Als Kind war er regelmäßig zur Kirche gegangen, darauf hatte seine gläubige Mutter bestanden. Als er älter wurde, hatte sich das gelegt wie bei fast allen Jugendlichen. Und später, als Erwachsener, hatte er es sich einfach gemacht und die Schuld an seinem mangelnden religiösen Interesse seiner Mutter zugeschoben. Sie, eine strenggläubige Frau, hatte ihn sein ganzes Leben lang über seinen Vater im Ungewissen gelassen oder gar belogen. Wie konnte da an dem katholischen Glauben, der die Lüge doch verbot, etwas dran sein?
Jetzt, als er hier auf dem kleinen Platz im Regen stand, wusste er, dass er seiner Mutter unrecht getan und sie als Alibi benutzt hatte. Die Erlebnisse in Borgo San Pietro hatten ihn gelehrt, dass seine Mutter für ihr Schweigen gute Gründe gehabt haben musste. Wenn ein Priester zum Mörder wurde, wie sollte eine einfache Frau dann freimütig sprechen?
Enrico ging auf die Kirche San Francesco zu, ohne zu wissen, warum er gerade sie ausgewählt hatte. Fast automatisch tauchte er die Hand beim Eintreten ins Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal getan hatte. Die Kirche war dunkel, kalt und leer.
Seine Schritte hallten, wie er fand, überlaut wider, als er langsam durch das Kirchenschiff schritt, bis er vor dem Tisch mit den Opferkerzen stand. Seine rechte Hand suchte in der Jackentasche nach einer Münze, die er durch den Schlitz in den Geldbehälter fallen ließ. Das metallische Klirren wollte nicht recht zu der weihevollen Stille passen. Er entzündete eine Kerze und stellte sie zu den anderen, wobei er an seine Mutter dachte und daran, wie ungerecht er über sie gedacht und gesprochen hatte.
Dann warf er eine zweite Münze in den Kasten, entzündete eine weitere Kerze und sprach zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder so etwas wie ein Gebet. Keine auswendig gelernten Formulierungen, wie sie von den Kirchenbesuchern so oft ohne Sinn und Verstand heruntergeleiert werden, sondern Worte, die ihm gerade einfielen, die ihm aus dem Herzen kamen. Er bat für Elena, um ihr Leben und ihre Gesundheit, während er auf die Knie sank und die Hände faltete. Dabei fühlte er sich, als habe er etwas lange Verlorenes wiedergefunden.
»Das Gebet hilft in der Not, uns selbst genauso wie denen, für die wir beten. Gott hört uns zu, wenn wir zu Ihm sprechen auch wenn es kein äußeres Zeichen gibt, an dem wir das erkennen. Wir wissen einfach, dass Gott bei uns ist und uns zur Seite steht. Das ist das Wunderbare an unserem Glauben.«
Wie durch eine Nebelwand drangen die Worte an Enricos Ohr und holten ihn aus der Versunkenheit des Gebets zurück.
Erst als er diese Worte vernahm und die schwarz gewandete Gestalt neben sich sah, wurde ihm bewusst, dass er nicht länger allein in der Kirche war. Erst glaubte er, der Pfarrer von San Francesco sei neben ihn getreten, aber dann bemerkte er die breite purpurne Schärpe, die runde Kopfbedeckung gleicher Farbe und das große goldene Kreuz, das an einer langen Kette vor der Brust des Geistlichen hing. Der Mann war um die sechzig, von mittlerer Gestalt, mit einem ernsten, entschlossenen Gesicht, dessen Augen hinter einer randlosen Brille lagen – und er war ein Kardinal.
Verwirrt darüber, im eher kleinen Pescia einen so hohen kirchlichen Würdenträger anzutreffen, stand Enrico auf. »Sie irren sich, Eminenz, ich bin zwar katholisch, aber nicht gläubig.«
»Und ich hätte schwören können, dass Sie eben gebetet haben«, sagte der Geistliche mit leichtem Kopfschütteln.
»Das … das habe ich auch. Aber es war zum ersten Mal seit vielen Jahren.«
»Besser zum ersten Mal seit vielen Jahren als überhaupt nicht. Die verlorenen Söhne, die zurückkehren, sind diejenigen unter seinen Kindern, über die sich unser Herr besonders freut.«
»Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das regelmäßig tun werde – beten, meine ich.«
»Gehen Sie in sich und hören Sie auf das,
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