Engelsfluch
Großtante hatte ihn nur noch mehr verwirrt. Er wollte seine Gedanken ordnen und war deshalb sehr froh, dass auch dem Polizisten nicht nach einem Gespräch zumute war.
Aber auf ungefähr halbem Weg stellte Massi die Frage, mit der Enrico rechnete, seit sie das Bergdorf verlassen hatten: »Wissen Sie wirklich nicht, wer Ihr Vater ist, Signor Schreiber?«
Massi hörte sich fast an wie der alte Ezzo Pisano, der Enrico vorhin auch mit dieser Frage konfrontiert hatte. Als Antwort hatte Enrico etwas Unverständliches gemurmelt und sich rasch von Pisano verabschiedet. Er wusste, dass er sich dem Polizisten gegenüber nicht so einfach aus der Affäre ziehen konnte.
»Jahrelang habe ich den Mann meiner Mutter für meinen leiblichen Vater gehalten, den Rechtsanwalt Lothar Schreiber aus Hannover«, begann Enrico, das schmerzhafteste Kapitel sein Lebensgeschichte zu erzählen. »Dem Gesetz nach war er auch mein Vater. Er und meine Mutter hatten vor meiner Geburt geheiratet. Ich wusste allerdings nicht, dass meine Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war, von einem anderen Mann.«
»Und Sie kennen diesen Mann nicht?«
»Leider nein, sonst hätte ich vorhin nicht die Signora gefragt.
Vielleicht hätte ich nie erfahren, dass Lothar nicht mein leiblicher Vater war, wäre er nicht schwer erkrankt. Er benötigte eine neue Niere, hatte aber die seltene Blutgruppe B, was die ohnehin nicht rosigen Aussichten auf eine Spenderniere noch verschlechtert hat. Ich habe mich untersuchen lassen, um zu erfahren, ob ich als Organspender für meinen Vater in Frage käme. Fehlanzeige. Ich habe nicht nur die stinknormale Blutgruppe A, ich erfuhr auch noch, dass ich mit meinem gesetzlichen Vater so wenig blutsverwandt war wie ein Elefant mit einer Maus. Mit ihm ging es schnell bergab, und ich habe das Thema ihm gegenüber nicht erwähnt. Er hat mich großgezogen und ist immer für mich da gewesen. Für mich blieb er bis zu seinem Tod mein Vater, den ich liebte und achtete.
Aber später, einige Zeit nach der Beerdigung, habe ich meine Mutter gefragt.«
»Und sie hat Ihnen den Namen Ihres wirklichen Vaters nicht verraten?«
»Meine Mutter sagte mir, sie kenne seinen Namen nicht. Er sei ein Fremder gewesen, der nur kurz auf der Durchreise in Borgo San Pietro geblieben sei. Als sie merkte, dass sie schwanger war, hatte sie weder seine Adresse noch seinen Namen. Ihr blieben nichts als ihr langsam dicker werdender Bauch und die damit verbundene Schande.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ein uneheliches Kind ist in Borgo San Pietro noch heute so etwas wie eine Pesterkrankung, aber zur Zeit Ihrer Mutter muss es um vieles schlimmer gewesen sein.
Zumal es das Kind von einem Unbekannten, einem Fremden, war.«
»Die Eltern meiner Mutter beschlossen, aus der misslichen Situation das Beste zu machen. Sie schickten ihre Tochter nach Deutschland, zu einer Familie, mit der die Familie Baldanello schon seit vielen Jahren befreundet war.«
»Die Familie Ihres vermeintlichen Vaters?«, fragte Massi.
»Ja. Meine Mutter sollte bei den Schreibers in Hannover bleiben, bis sie entbunden hatte. Praktischerweise verliebten sich meine Mutter und Lothar Schreiber ineinander, und so kam ich als eheliches Kind zur Welt.«
»Dann sind Sie ja ein waschechter Italiener, was Ihre Abstammung betrifft. Jedenfalls, wenn man davon ausgeht, dass der große Unbekannte kein Ausländer war.«
»Er war Italiener. Immerhin das konnte – oder wollte – meine Mutter mir sagen.«
»Deuten Sie damit an, dass Ihre Mutter Ihnen nicht alles gesagt hat, was sie über Ihren leiblichen Vater wusste?«
»Ich deute an, Signor Massi, ich deute an. Dass meine Mutter mehr über den Mann wusste, an den sie ihre Unschuld verlor, habe ich immer schon geahnt. Ohne konkreten Grund, aber etwas in mir hat nicht geglaubt, dass ich den Namen meines wahren Vaters niemals erfahren sollte. Gewissheit erlangte ich aber erst am Sterbebett meiner Mutter. Vielleicht bereute sie im Angesicht des Todes, mir nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben. Sie konnte wegen eines Schlaganfalls kaum sprechen, aber sie hat es versucht. Und ein paar Worte konnte ich verstehen. Sie sagte, ich solle meinen Vater suchen oder besuchen, so ganz konnte ich es nicht verstehen. Aber deutlich hörte ich, wie sie in diesem Zusammenhang von Borgo San Pietro sprach.«
»Also war Ihr Vater kein Fremder, kein Durchreisender. Er kam aus dem Ort.«
»Entweder das, oder in Borgo San Pietro gibt es zumindest einen Hinweis auf
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