Engelsfluch
wieso?«
»Weil du mir helfen sollst. Vereint sind unsere Kräfte stärker.«
» Unsere Kräfte? Ich verfüge nicht über solche Kräfte wie Sie.«
»Doch, das tust du. Ich habe es schon bei unserer ersten Begegnung gespürt. Du hast nur nie gelernt, deine Fähigkeiten zu nutzen. Jetzt ist es an der Zeit. Knie dich hin!«
Wie in Trance befolgte Enrico die Anweisung. War der Alte verrückt? Enrico wusste nichts von besonderen Fähigkeiten ähnlich denen, die er bei Angelo vermutete. Aber er legte seine Hände auf Elenas Brust, als Angelo ihn dazu aufforderte. Was auch immer dazu dienen mochte, Elena zu helfen, er würde es tun.
»Jetzt schließ die Augen, damit du dich besser konzentrieren kannst!«, sagte Angelo.
Enrico gehorchte und fragte: »Was muss ich tun?«
»Nichts Besonderes. Denk einfach an die Frau und entspann dich! Denk daran, dass es ihr gut geht! Denk an ihre Stimme und an ihr Lächeln!«
Enricos Gedanken wanderten zurück zu seiner ersten Begegnung mit Elena. Er dachte an ihre Unterhaltung und daran, wie ihre fröhliche Art ihn beeindruckt hatte. Ein seltsames Gefühl ergriff von ihm Besitz. Erst war es nur ein leichtes Kribbeln, das von seinen Fingerspitzen in seine Hände kroch, dann seinen ganzen Körper erfasste und sich in eine Welle aus Wärme umwandelte. Wie eine warme Dusche, die ihn von innen durchströmte. Es war keineswegs unangenehm, im Gegenteil. Er fühlte sich geborgen und aufgehoben wie schon lange nicht mehr – Wie als Kind, dachte er, als er Lothar Schreiber noch für seinen leiblichen Vater gehalten hatte.
Dann aber geschah etwas Seltsames, Unheimliches: Aus dem Dunkel, das ihn umgab, tauchte eine Gestalt auf, ein hoch gewachsener Mann mit Flügeln. Nur wer diesen Traum noch nie gehabt hatte, konnte die Gestalt für einen Engel halten. Was Enrico befürchtet hatte, trat ein. Die eben noch harmonischen Züge eines Engels verwandelten sich in eine Teufelsfratze von solcher Hässlichkeit und Bösartigkeit, dass Enrico Panik ergriff.
Der Impuls, den er zu unterdrücken versuchte, wurde übermächtig: fliehen, wegrennen – nur fort von dieser monströsen Gestalt aus seinen Träumen, die mehr und mehr versuchte, in die Wirklichkeit einzudringen. Enrico fühlte sich, als verlöre er den Boden unter den Füßen. Ein tiefes Loch tat sich unter ihm auf, und er fiel hinein, tiefer und tiefer … Mit Gewalt riss er die Augen auf, und der Unheimliche löste sich von einer Sekunde zur anderen in nichts auf. Enricos Atem rasselte, und seine Hände, die noch auf Elenas Brust lagen, zitterten wie im Schüttelfrost. Er fühlte in sich noch die Panik, die der Anblick des Geflügelten ausgelöst hatte. Aber das alles zählte nicht mehr, als er in Elenas Gesicht sah. Sie hatte die Augen geöffnet und betrachtete ihn verwirrt.
»Was mache ich hier?«, kam es stockend über ihre Lippen.
Ihr Blick wanderte weiter zu Angelo, der sich langsam erhob.
»Wer …«
»Ich bin Angelo. Zusammen mit diesem jungen Mann dort habe ich dich aus dem Schlaf geholt. Jetzt müssen sich die Ärzte um dich kümmern.«
Er öffnete die Tür und winkte Addessi und Cardone herein.
Die beiden wollten ihren Augen nicht trauen, als sie Elena bei Bewusstsein vorfanden. Angelo wehrte alle Fragen ab und zog Enrico mit sich hinaus. Er ließ Commissario Massi einfach stehen und eilte mit Enrico aus der Intensivstation. In einer Ecke in der ein paar Stühle und ein kleiner runder Tisch mit Zeitschriften standen, machten sie Halt.
»Setz dich!«, sagte Angelo. »Dich hat die Sache mehr mitgenommen, als ich dachte. Was hast du gefühlt?«
Enrico schilderte seine Empfindungen und auch die Traumgestalt, die ihm erschienen war. Er berichtete Angelo, dass er dieser Gestalt in seinen Träumen schon häufig begegnet war. Er wusste nicht, warum er Angelo gegenüber so offen war.
Irgendetwas an dem Einsiedler flößte ihm Vertrauen ein.
Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass er Elena gerettet hatte. »Was ist mit mir, Angelo?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Aber mir wird klar, dass in dir mehr steckt, als ich ahnte.«
»Sie wissen auch nicht, warum ich diese Träume habe? Wie ich ihnen entfliehen kann?«
»Du kannst ihnen nicht entfliehen. Eines Tages wirst du dich dem Geflügelten stellen müssen.«
»Aber wer – oder was – ist er?«
»Vielleicht das Gute, vielleicht das Böse. Auf jeden Fall das, was du in ihm siehst.«
»Das ist keine Antwort, die mich zufrieden stellt, Angelo. Ich habe noch so viele
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