Engelsfluch
ist.«
»Nichts Besonderes. Ich habe Elena mit meinen Händen berührt, die Augen geschlossen und an sie gedacht. So hat es Angelo verlangt.«
»Und dann?«
Er beschrieb das Kribbeln, die Wärme und das Gefühl von Geborgenheit, das ihn übermannte. Aber er erwähnte weder die geflügelte Gestalt aus seinem Alptraum, noch sagte er der Ärztin, dass auch er nach Angelos Worten über die besonderen Kräfte verfügte. Er fühlte sich ausgebrannt und verspürte keine Neigung, das Thema jetzt zu vertiefen. Er wollte seine Gedanken lieber erst selber ordnen. Dr. Addessi war eine kluge Frau, und sie mochte sich ihren Teil denken.
»Heilung durch Handauflegen?«, fragte sie zweifelnd. »Das ist alles?«
»Ja, das ist alles.«
»Und diese Flecke?« Die Ärztin wies auf seine Hände.
»Angelo hatte sie auch. Ich weiß nicht, woher sie kommen.
Erst dachte ich, es sei Blut. Aber es sind keine Wunden.«
»Darf ich mal?« Sie sah sich seine Hände von beiden Seiten an. »Sie haben Recht, keine Wunden, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht. Es scheint eine leichte Schwellung zu sein.
Ein Hautarzt könnte Ihnen vielleicht sagen, woher das kommt.«
»Das bezweifle ich«, seufzte er. »Kann ich jetzt zu Elena?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Sie schläft. Wir haben ihr ein Mittel gegeben. Zu viel Aufregung ist jetzt nicht gut für sie.
Aber sorgen Sie sich nicht, Elenas Werte sind gut. Wie auch immer Angelo es geschafft hat, sie ist über den Berg. Auch Dr.
Cardone ist ganz aus dem Häuschen. Und Sie, Signore, sollten sich jetzt ein wenig ausruhen. Sie sehen reichlich mitgenommen aus. Heute Abend können Sie Ihre Freundin besuchen.«
Enrico verließ das Krankenhaus und ging zu seinem Wagen.
Nachdem er den Schuhkarton auf den Beifahrersitz gestellt hatte, überlegte er es sich anders. Er schloss den Wagen wieder ab und ging in die Kirche San Francesco, die er menschenleer vorfand. Er entzündete eine Kerze als Dank für Elenas Genesung und fiel auf die Knie, suchte in sich nach Worten, um mit Gott zu sprechen.
War es vermessen, anzunehmen, dass seine Fürbitte geholfen und eine höhere Macht – Gott – dazu gebracht hatte, Elena beizustehen? Er konnte es nicht sagen, aber eins wusste er: Was er heute in dem Krankenzimmer erlebt hatte, konnte er nicht anders bezeichnen als ein Wunder. Er blickte auf seine gefalteten Hände mit den roten Flecken und fragte sich, inwieweit er selbst mit jenen Kräften, die der Einsiedler erwähnt hatte, zu dem Wunder beigetragen hatte. Bevor er die Kirche verließ, blieb er vor dem Bildnis Franz von Assisis stehen und betrachtete die Wundmale des Heiligen. Nein, sagte Enrico zu sich selbst und schüttelte den Kopf. Einen Vergleich zu dem heiligen Mann zu suchen, das wäre wirklich vermessen gewesen. Beim Verlassen der Kirche verspürte er einen Bärenhunger. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Auf dieser Seite des Flusses schien es wenig Restaurants zu geben. Er ging über eine der vielen Brücken, die den Wasserlauf in fast regelmäßigen Abständen überspannten, und steuerte die kleine Piazza im Stadtkern an. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein, hier versprühte Pescia den leicht vergilbten Charme eines Italien, das alte Fotos und Filme vermittelten. Da der Regen schon vor einiger Zeit aufgehört hatte, schlenderten die Menschen gelassen über den Platz, blieben vor Schaufenstern stehen, suchten eine Bar oder ein kleines Lokal auf. Alltägliches Leben, und doch erschien es Enrico mit einem Mal fremd. Seit seinem ersten Besuch in Borgo San Pietro spürte er, dass es hinter der Fassade der äußeren Welt noch etwas anderes gab, schwer fassbar und wohl noch schwerer begreifbar. Ein Walten von Mächten, das die Menschen, die ihren tagtäglichen Geschäften nachgingen nicht wahrnahmen. Vielleicht deshalb nicht, weil sie es gar nicht wollten, weil es ihren Verstand überfordert und ihr Vertrauen in die Welt des Greifbaren, des Faktischen, erschüttert hätte.
Er betrat eine winzige Pizzeria, bestellte am Tresen eine Thunfischpizza und setzte sich auf einen freien Stuhl am Fenster. Auf der Piazza liefen die Menschen vorbei, ohne ihm einen Blick zu gönnen. Enrico hatte den Eindruck, dass ihn von diesen Menschen weitaus mehr trennte als nur die Glasscheibe.
Da oben in den Bergen, in Borgo San Pietro, war er durch ein Tor getreten, das in eine andere Welt führte, in einen anderen Kosmos. Aber er fühlte keine
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