Engelsfluch
Fragen.«
»Ich kann dir nicht mehr sagen. Ich bin müde und erschöpft.
Bitte!«
Der Einsiedler hob abwehrend die Hände, und jetzt erst bemerkte Alexander die roten Kreise in den Handtellern. Er dachte an seine gestrige Begegnung mit Kardinal Ferrio und an das Bildnis des heiligen Franz von Assisi. Die Wundmale des Herrn!
»Woher stammt das?«, fragte Enrico.
Aber Angelo schüttelte nur stumm den Kopf und wandte sich in Richtung Ausgang. Enrico fühlte sich ausgelaugt und hatte nicht die Kraft, ihn aufzuhalten. Außerdem wäre es auch nicht recht gewesen. Angelo hatte mehr getan, als er ihm jemals vergelten konnte.
Enrico wollte den schweren Kopf in seine Hände stützen.
Aber er erschrak und hielt mitten in der Bewegung inne. Auch seine Hände wiesen innen und außen die roten Flecke auf, schwächer als bei Angelo, aber eindeutig erkennbar. Vielleicht war es dieser Augenblick, in dem Enrico begriff, dass für ihn nach dieser Reise nichts mehr so sein würde wie zuvor. Hier in Italien würde sich sein Schicksal erfüllen.
10
Vorsichtig betastete Enrico mit den Fingern einer Hand die roten Flecke auf der anderen. Keine Feuchtigkeit, kein Blut und vor allem kein Schmerz. Er dachte an Jesus Christus, den Gekreuzigten, und versuchte sich den Schmerz von Nägeln vorzustellen, die einem durch Hände und Füße getrieben wurden. Es musste fürchterlich sein und doch belanglos im Vergleich zu der Pein, wenn man am Kreuz hing und das eigene Gewicht an den Wunden zerrte. Er blickte auf seine Füße und war versucht, die Schuhe auszuziehen, um auch dort nach den seltsamen roten Flecken zu suchen. Aber in diesem Augenblick trat sichtlich aufgeregt Fulvio Massi zu ihm und streckte ihm etwas entgegen. Es war der Schuhkarton, den Enrico von Ezzo Pisano im Auftrag der verstorbenen Rosalia Baldanello erhalten hatte. Seit Enrico den Karton vor ihrem Aufbruch in die Berge in den Streifenwagen gelegt hatte, hatte er nicht mehr an ihn gedacht.
»Das gehört Ihnen, Signor Schreiber. Nehmen Sie, rasch, ich muss los!«
»Was ist?«, fragte Enrico, während er den Karton entgegennahm.
»Ich habe gerade einen Anruf aus dem Hauptquartier erhalten. Don Umiliani ist tot.«
»Was?«
»In seiner Zelle erhängt. Diese Idioten haben ihm seinen Gürtel gelassen, nur weil er ein Geistlicher war! Jetzt werden wir vielleicht niemals erfahren, warum mein Schwager sterben musste. Bis später, Signor Schreiber!«
Der Commissano eilte mit großen Schritten in Richtung Fahrstuhl, und Enrico dachte an den Pfarrer von Borgo San Pietro. Erst Mord und dann Selbstmord! Was konnte einen Geistlichen dazu bringen, sich so gegen die Gebote Gottes zu versündigen? Enrico hatte keine Erklärung dafür. Gestern erst war dieser Kardinal aus dem Vatikan bei Umiliani gewesen.
Man hätte glauben sollen, Umiliani habe ihm gegenüber sein Gewissen erleichtert. Aber offenbar war die Bürde seiner Tat für den Pfarrer zu schwer gewesen. Nur ein Punkt erschien Enrico nun noch mysteriöser als bisher: Wenn der Mord an Cavara den Dorfpfarrer so sehr mitgenommen hatte, warum hatte er ihn überhaupt begangen?
Jemand im weißen Kittel trat zu Enrico. Er blickte auf und erkannte Riccarda Addessi, die ihn forschend ansah.
»Wie fühlen Sie sich, Signor Schreiber?«
»Ganz gut, Dottoressa. Sagen Sie mir doch lieber, wie es Elena geht!«
»Besser.« Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Wenn mir das jemand heute Morgen erzählt hätte, hätte ich ihn in die geschlossene Abteilung eingewiesen. Dieser Angelo verfügt über ganz außergewöhnliche Fähigkeiten. Wo ist er hin?«
»Zurück in die Berge, nehme ich an.«
»Ich muss ihn unbedingt sprechen. Seine Kenntnisse könnten für die Medizin von unschätzbarem Nutzen sein.«
»Ich glaube nicht, dass er darüber mit Ihnen sprechen will.
Nach meinem Dafürhalten will er am liebsten mit niemandem sprechen.«
»Aber es ist wichtig. Bringen Sie mich bitte zu ihm, damit ich ihn selbst fragen kann!«
»Das darf ich nicht. Ich habe es ihm versprochen.«
»Sie sind nicht sehr kooperativ.« Die Worte der Ärztin klangen nicht wütend, eher enttäuscht.
»Würden Sie Ihr Wort gegenüber dem Mann brechen, der gerade …« Enrico sprach nicht weiter, sondern blickte zum Eingang der Intensivstation.
»Vermutlich würde ich ebenso schweigsam sein wie Sie«, sagte Dr. Addessi und ließ sich auf einem freien Stuhl neben Enrico nieder. »Ich nehme an, Sie dürfen mir auch nicht sagen, was in dem Zimmer geschehen
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