Engelsfuerst
Plätze auf der anderen Seite des Mittelschiffs ansteuerten. »Wer Stunden um Stunden über
Zahlenkolonnen brütet, ist gewiß nicht zu beneiden.«
Das vatikanische Fernsehen CTV – Centro Televisione Vaticano – hatte an mehreren Stellen Kameras
aufgebaut, um die Messe live zu übertragen und die
Bilder an interessierte Fernsehsender auf der ganzen
Welt weiterzuleiten. Natürlich gegen gute Bezahlung,
denn CTV war, obwohl dem Heiligen Stuhl unterstellt, von dessen Vermögensverwaltung unabhängig
und mußte sich selbst finanzieren. Draußen auf dem
Petersplatz waren eilig Großbildschirme aufgestellt
worden, damit die dort versammelte Menge die Messe
verfolgen konnte.
Bald war in den Sitzreihen kaum noch ein freier
Platz auszumachen.
Feierliche Orgelmusik erfüllte die gewaltige Basilika, als Papst Custos an der Spitze der Kurienkardinäle
das Mittelschiff betrat und zum Papstaltar schritt, der
sich direkt über dem Petrusgrab befinden sollte.
Wie viele Menschen in aller Welt mochten diese
Bilder jetzt sehen, überlegte Alexander. Vermutlich
waren es etliche Millionen.
Noch etwas ging ihm durch den Kopf. War diese
Messe ein bloßes Symbol dafür, daß die Katholiken
fest an eine Rückkehr des verschwundenen Papstes
Lucius glaubten? Oder konnte Papst Custos, der Engelspapst, mit seinen besonderen Kräften etwas bewirken, das niemand sonst sich vorzustellen vermochte?
Aber Custos war, auch wenn er von Jesus abstammte,
nur ein Mensch, und seine Kräfte waren begrenzt.
Jetzt stand er vor dem Altar, über dem auf zwanzig
Meter hohen, mit prachtvollen Ornamenten verzierten
Säulen der Baldachin aus vergoldeter Bronze ruhte, im
siebzehnten Jahrhundert von dem Bildhauer Bernini
so kunstvoll entworfen, daß er über dem Altar zu
schweben schien. Zu Ehren des heiligen Petrus gingen
vor dessen Grab der weißgekleidete Papst und die
Kardinäle in ihren schwarzroten Gewändern in die
Knie und beteten. Nachdem sie sich wieder erhoben
hatten, erstieg Custos die Altarstufen, und die Kardinäle wandten sich ihren Plätzen in den vordersten Sitzreihen zu.
Einer von ihnen, ein massiger Mann mit großer
Hornbrille, blieb plötzlich stehen, als sei er gegen eine
unsichtbare Wand gelaufen. Alexander erkannte Kardinal Scheffler.
Die Starre währte nur kurz, vielleicht zwei oder
drei Sekunden, dann war von Scheffler nicht mehr viel
zu sehen außer Flammen, die über seinen ganzen
Körper züngelten. Es hatte den Anschein, als seien sie
aus seinem Inneren gekommen. Wie eine menschliche
Fackel stand der Generaldirektor der Vatikanbank
inmitten seiner Amtsbrüder und verbrannte vor aller
Augen.
Entsetzt verfolgte Alexander das schreckliche
Schauspiel und dachte zugleich an Spadones Vortrag
über Selbstentzündungen. Der Sicherheitschef hatte
davon gesprochen, daß Menschen innerhalb weniger
Minuten verbrannten. Aber es dauerte nur Sekunden,
bis aus Kardinal Scheffler ein Häufchen Asche geworden war.
47
In den umbrischen Bergen
E
nrico biß die Zähne zusammen, aber mit jedem
Schritt fiel ihm das Gehen schwerer. Der Fuß,
den er sich bei seinem Rückzug aus dem Kloster verstaucht hatte, machte ihm immer noch zu schaffen.
Hätten sein Vater und Francesco ihn nicht gestützt, er
hätte aufgeben müssen. Zumindest schienen die Verfolger ihnen nicht unmittelbar auf den Fersen zu sein.
Schon seit etwa zwanzig Minuten hatten sie nichts
mehr von ihnen gehört. Vielleicht, so hoffte Enrico,
war es ihnen gelungen, die Ordenssoldaten in dem
unwegsamen Gelände abzuschütteln.
»Was ist das?« fragte Elena und lauschte. »Ein Plätschern, da vorn! Vielleicht finden wir dort Wasser!«
Sie folgten Elena und gelangten an einen von Eichen und Buchen beschatteten Platz, durch den sich
ein schmaler Bachlauf schlängelte, der von den Bergen
herunterkam. Eigentlich nur ein Rinnsal, aber es war
klares, erfrischendes Wasser. Sie tranken und reinigten
ihre Wunden, so gut es ging. Keiner von ihnen hatte
den Unfall und den anschließenden Gewaltmarsch
unbeschadet überstanden, aber niemand beklagte sich.
Enrico sah zu Elena hinüber, die, den Rücken gegen
den mächtigen Stamm einer Eiche gelehnt, mit geschlossenen Augen dasaß und tief durchatmete.
»Wie fühlst du dich? Und wie geht es deinem
Kind?«
Sie blickte ihn an und lächelte tapfer. »Uns beiden
geht es gut, danke. Ich bin nur etwas erschöpft. Allmählich beginne ich zu spüren, daß ich eine werdende
Mutter bin.«
»Es wäre gut, wenn wir Hilfe herbeirufen
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