Engelsfuerst
halbwegs
entspannt. Er blickte hinunter auf die Berge des
Apennins und fragte sich, welche Überraschungen
diese Nacht noch bereithalten mochte.
Umringt von den Wachen, die Ambrosio anführte,
gingen Enrico und Lucius den Höhlengang entlang,
immer weiter hinein in den Tempel der Ahnen. Der
Vater stützte den Sohn, damit dem nicht jeder Schritt
zur Qual wurde. Viel wichtiger war für Enrico aber
die seelische Unterstützung, die er durch seinen Vater
erfuhr.
Genauso wie die körperliche Nähe spürte Enrico
die innere Verbundenheit mit dem Vater, den er erst
seit zwei Jahren kannte. Gemessen an dem, was üblicherweise von Vater und Sohn erwartet wurde, hatten
sie verschwindend wenig Zeit miteinander verbracht.
Aber jetzt, da vor ihnen eine gemeinsame Aufgabe lag,
von deren Bewältigung das Schicksal der Menschheit
abhing, fühlte er sich ihm so nahe, wie ein Sohn sich
dem Vater nur fühlen konnte. Innerlich waren sie eins,
und was hätten Vater und Sohn einander mehr sein
können?
Das feine Lächeln auf Lucius’ Gesicht zeigte Enrico, daß sein Vater ebenso empfand wie er.
Die Bilder aus etruskischer Zeit links und rechts an
den Wänden vermittelten einen Eindruck davon, wie
es gewesen war, als die gefallenen Engel auf Erden
wandelten. Die Szenen, die zeigten, wie sie ungehorsame Menschen grausam bestraften, und jene, die den
verheerenden Krieg der Engel darstellten, bestärkten
Enrico darin, daß sich so etwas nicht wiederholen
durfte. Hier und jetzt mußten die gefallenen Engel
endgültig besiegt werden!
Er spürte die Engelsmacht in sich und hörte wieder
die Stimmen, die lockenden wie die warnenden.
Diesmal war er gut vorbereitet, und es gelang ihm, die
Stimmen im Hintergrund zu halten. Noch war es
nicht an der Zeit, auf sie zu hören.
Der Gang mündete in den gewaltigen, von elektrischen Lampen erleuchteten Felsendom, in dem die
überlebensgroßen Steinengel wachten. Vor dieser Kulisse wirkten die wenigen Menschen, die dort auf sie
warteten, verloren. Es waren Tommasio und drei weitere Männer, zwei davon in der Uniform der Ordensoffiziere. Tommasio und ein junger Mann aber trugen
schwarze, samtig glänzende Gewänder, die fast bis zu
den Füßen reichten und auf der linken Brust mit dem
Totus-Tuus-Wappen versehen waren.
Enrico kannte den jungen Mann mit der modischen
Frisur nicht. Aber das kantige Gesicht mit der leicht
gebogenen Nase und den grauen Augen hatte Ähnlichkeit mit dem von Tommasio, und Enrico dachte
an die Überlieferung, von der sein Vater erzählt hatte: Es heißt, die Entscheidung über Licht oder Finsternis
fällt, wenn Uriels Sohn und der Sohn von Uriels Sohn
gegenüberstehen dem Sohn Luzifers und dem Sohn
von Luzifers Sohn.
Lucius starrte die beiden Männer in den schwarzen
Gewändern an und konnte sein Erstaunen nicht ganz
verbergen.
»Der Sohn von Luzifers Sohn! Er war die ganze
Zeit über im Vatikan. Als Mitarbeiter des IOR und
Sekretär von Kardinal Scheffler, nicht wahr?«
Der junge Mann lächelte schwach. »Ganz recht.
Fabio Pallottino, damit Eure Heiligkeit auch meinen
Namen weiß. Was Scheffler betrifft, der weilt nicht
länger unter uns. Er stand kurz davor, meine Transaktionen zu durchschauen. Jetzt hat die Macht der Engel
ihn verbrannt.«
»Die Macht der gefallenen Engel«, berichtigte Lucius. »Damit haben Sie ihn ermordet!«
»Ich habe lediglich von meinen bescheidenen Fähigkeiten Gebrauch gemacht, um die Energie, die in
ihm schlief, auf einen Schlag zu entfachen. Verbrannt
ist er von selbst.«
»Eine schwache Ausrede für einen Mord. Da könnte man auch einen Menschen erschießen und sagen,
verblutet sei er von allein.« Verachtung trat in Lucius’
Blick, der von Pallottino zu Tommasio wanderte.
»Unterschlagung und Mord, sind das die Methoden
derjenigen, denen ihr zur Herrschaft über die
Menschheit verhelfen wollt?«
Pallottino breitete die Arme aus, und es zeigte sich,
daß das schwarze Gewand zwischen Armen und
Oberkörper mit etwas versehen war, das an lederne
Schwingen erinnerte; plötzlich sah er aus wie eine
menschliche Fledermaus. »Wir haben uns der Methoden der Menschen bedient, um auf ihrer Welt etwas zu
erreichen. Der Heilige Stuhl hat dafür gesorgt, daß Totus Tuus seine Macht, die meisten seiner Anhänger
und seine finanziellen Mittel genommen worden sind.
Da war es nur recht und billig, daß wir Gelder des
Heiligen Stuhls dazu verwendet haben, dies alles hier
zu finanzieren. Die Ausrüstung, die Arbeiten
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